26.03.2014 09:34 Uhr in Gesellschaft & Familie von Auswärtiges Amt
Rede von Staatsminister Michael Roth beim europapolitischen Abend in der Katholischen Akademie Berlin
Kurzfassung: Rede von Staatsminister Michael Roth beim europapolitischen Abend in der Katholischen Akademie BerlinEuropa vor der Wahl: Neustart oder Niedergang? es gilt das gesprochene Wort Sehr geehrte Frau Dr. M ...
[Auswärtiges Amt - 26.03.2014] Rede von Staatsminister Michael Roth beim europapolitischen Abend in der Katholischen Akademie Berlin
Europa vor der Wahl: Neustart oder Niedergang?
es gilt das gesprochene Wort
Sehr geehrte Frau Dr. Maria-Luise Schneider,
]sehr geehrte Frau Dr. Gabriela Schneider,
sehr geehrter Kollege Wieland,
sehr geehrte Damen und Herren,
es freut mich, heute Abend mit Ihnen hier in der Katholischen Akademie ins Gespräch kommen zu können. Einige von Ihnen werden vielleicht wissen, dass ich Mitglied der Synode, also des Kirchenparlaments der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck und Mitglied der Kammer für Öffentliche Verantwortung der Evangelischen Kirche in Deutschland bin. Nicht nur als Politiker, sondern auch als evangelischer Christ sehe ich mich in besonderer Verantwortung, für die europäische Idee einzustehen. Deshalb will ich heute mit Ihnen gemeinsam darüber nachdenken, wie wir die Zukunft Europas wieder hoffnungsvoller gestalten können. Wenn wir an etwas glauben, dann ist das ja nicht allein im religiösen Sinne zu verstehen.
Dabei geht es stets auch um Vertrauen und Zuversicht. Beides hat Europa, die Idee des vereinten Europas, derzeit bitter nötig.
Zukunft kommt von Herkunft. Daher lassen Sie mich zunächst zum Ursprung der europäischen Integration zurückkehren: Ziel ihrer Gründerväter und -mütter war es, aus einem zerrissenen und von Kriegen schwer gebeutelten Kontinent mit unterschiedlichen nationalen Geschichten, Kulturen und Traditionen eine Gemeinschaft zu gründen, die auf gemeinsamen Werten beruhte. Die Grundwerte dieser Gemeinschaft sind die Werte der Freiheitsrevolutionen von 1789, aber auch 1989: die unveräußerliche Würde jedes Menschen, die Freiheit des Einzelnen, der Schutz von Minderheiten im Rechtsstaat, die Teilhabe aller am demokratischen Gemeinwesen, ja und eben auch die Solidarität. Werte, die auch den Kirchen zentrale Anliegen sind und waren: Würde und Gleichheit der Menschen beruhen auf der Ebenbildlichkeit Gottes, sind damit genauso fundamentale christliche Gebote wie die Nächstenliebe. Die Freiheit des Einzelnen ist undenkbar ohne die Freiheit zur Religionsausübung. Wenn wir uns dazu verpflichten, Minderheiten zu schützen, sind dies eben nicht nur ethnische oder sexuelle, sondern selbstverständlich auch religiöse.
Der griechische Schriftsteller Petros Markaris kritisierte auf dem Höhepunkt der Krise, "dass Europa viel in die Wirtschaft investiert hat, aber zu wenig in die Kultur und die gemeinsamen Werte. "Man irrt sich", so schrieb er weiter, "wenn man glaubt, dass die Krise in Europa nur eine finanzielle ist. Wir erleben auch eine Krise der europäischen Werte." So richtig es ist, mit aller Kraft dafür zu arbeiten, die Wirtschafts- und Finanzkrise zu bewältigen, werde ich nicht müde zu sagen: Europa ist weit mehr als nur ein Binnenmarkt und eine Währungsunion. Europa ist vor allem eine einzigartige Wertegemeinschaft, die weit über unsere Außengrenzen hinaus strahlt.
Am Beispiel Griechenlands, das ich seit meinem Amtsantritt im vergangenen Dezember bereits viermal besucht habe, kann man dies sehr gut beobachten. Denn so wichtig Wettbewerbsfähigkeit für die Selbstbehauptung Europas auf globalisierten Märkten sein mag, so wenig dürfen wir den inneren Zusammenhalt unserer Gesellschaften vernachlässigen. Der gesellschaftliche und soziale Zusammenhalt, der auch Belastungen standhält, ist Europas Markenkern. Wie wollen wir aber diesen Zusammenhalt bewahren, wenn in Griechenland mittlerweile mehr als jeder zweite Jugendliche zwischen 16 und 25 Jahren keinen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz hat?
In Spanien sieht es nicht besser aus, in elf weiteren Ländern liegt die Arbeitslosenquote bei jungen Menschen bei über 25 %. Viele von ihnen sehen Europa nicht mehr als ein Zukunftsversprechen, sondern als Bedrohung, sie verlieren den Glauben an Europa.
Wenn man diese soziale Krise in Europa verstehen will, dann sind persönliche Begegnungen oft noch viel eindrücklicher als nackte Zahlen. Es sind diese Begegnungen, die uns die bewegenden Einzelschicksale der Verlierer der Krise vor Augen führen. Sie verdienen ganz besonders unsere Solidarität. Einen dieser Momente habe ich kürzlich bei einer meiner Reisen nach Griechenland erlebt. In Thessaloniki begegnete ich einer jungen Frau, deren Geschichte mich tief berührt hat. Diese junge Frau, eine Diplom-Ingenieurin, Anfang 30, erzählte mir, dass sie nun bereits seit einem Jahr arbeitslos sei, keinerlei Sozialleistungen empfange und kürzlich in ihrer Not wieder bei ihren Eltern eingezogen sei. Diese Geschichte hat mir gezeigt: Wenn es einen Grund gibt, warum die soziale Explosion in Griechenland oder Spanien bislang ausgeblieben ist, dann nur aufgrund des traditionell starken familiären Zusammenhalts. Von dieser Solidarität innerhalb der Familie können wir a uch in Europa lernen.
Denn nur wenn wir in der Krise zusammenstehen und den Schwachen eine Perspektive für eine bessere Zukunft geben, dann wird Europa auch weiter als Erfolgsmodell gelten.
Wir müssen noch entschiedener daran arbeiten, die sozialen Nachwehen der Krise zu bewältigen und das Vertrauen der Menschen wieder zurückzugewinnen, die am stärksten unter der Krise gelitten haben. Das ist eine Aufgabe, die uns weit über die Wahlen zum Europäischen Parlament im Mai hinaus beschäftigen wird.
Wir brauchen Strukturreformen. Diese Strukturreformen sind allerdings kein Selbstzweck, sondern sollen gemeinsam mit höheren Investitionen in Innovationen und Wachstum dafür sorgen, dass überall in Europa Arbeitsplätze entstehen, insbesondere für Jugendliche. Europa kann sich keine Wohlstandsinseln leisten: Das Wohlstandsversprechen gilt für alle gleichermaßen, soziale Spannungen und Armut sollen abgebaut werden - zurzeit erleben wir leider vielfach das Gegenteil.
Ja, Europa braucht einen "Neustart" - im Sinne einer Verstärkung unserer Bemühungen, gemeinsame Antworten zu finden. Denn ich bin überzeugt: Europa ist nicht das Problem, sondern die Lösung für die großen Fragen unserer Zeit. Globale Themen wie die weltweite Wirtschafts- und Finanzkrise, unkontrollierte Finanzmärkte oder milliardenschwere Fonds, die binnen Sekunden Unsummen von einem Kontinent zum anderen transferieren, sind für uns alle gleichermaßen eine Herausforderung. Klimawandel und Energiewende können nicht allein national bewältigt werden. Nur ein geeintes Europa, das seine eigene Reservewährung und einen der größten Binnenmärkte der Welt in die Waagschale zu werfen vermag, wird sicherstellen können, dass unsere Regeln, unsere Werte auch im 21. und 22. Jahrhundert relevant bleiben.
Europa muss in jeder Hinsicht stärker aus der Krise hervorgehen als es hineingekommen ist.
Nur ein Europa, das vernehmbar mit einer Stimme spricht, wird jenseits seiner Grenzen eine Rolle spielen.
100 Jahre nach dem Beginn des Ersten Weltkriegs, 75 Jahre nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs und 25 Jahre nach dem Fall der Mauer ist die Frage von Krieg und Frieden, von Einheit und Spaltung unseres Kontinents nach Europa zurückgekehrt. Ein friedliches, tolerantes und weltoffenes Europa ist alles andere als eine Selbstverständlichkeit: Das Friedensnarrativ ist mitnichten überholt. Das wollte uns wohl auch die Jury in Oslo mahnend ins Gedächtnis rufen, die der Europäischen Union den Friedensnobelpreis verliehen hat. Menschen auf dem Kiewer Maidan haben mit der Europaflagge in der Hand ihr Leben riskiert, weil sie an etwas glauben, was uns selbst zu sehr zu einer puren Selbstverständlichkeit geworden ist. Ja, die Werte, für die Europa einsteht, faszinieren immer noch und geben Hoffnung. Der Ukraine deshalb ein Entweder-Oder aufzudrängen, ist dennoch falsch, für die Ukraine darf es keine Entscheidung zwischen Ost und West geben. Das wird weder der Gesch ichte des Landes gerecht noch sollte dieses Denken in den Kategorien von politischen Einflusssphären Platz in unserer heutigen Welt haben. Der Kalte Krieg ist definitiv vorbei: Die Logik des 21. Jahrhunderts muss eine von Kooperation sein, nicht von Konfrontation. Es ist doch gerade die Kraft dieses versöhnten Europas, die Vorbild für andere Regionen in der Welt sein kann.
Unsere Wertegemeinschaft macht uns stark, verpflichtet uns aber auch ganz besonders - auch nach Innen. Lassen Sie uns davor nicht zurückschrecken. Die Bundesregierung hat deshalb mit einigen anderen Mitgliedstaaten auf eine Grundwerteinitiative gedrängt. Am 11. März hat die europäische Kommission hierzu einen Vorschlag gemacht. Dabei hoffen wir auch auf die Unterstützung aus der Mitte der Zivilgesellschaft. Wir müssen glaubhaft und konsequent unsere Werte nach Innen vertreten. Helfen Sie uns bitte dabei!
Zwei Monate vor der Wahl zum Europäischen Parlament attackieren Populisten und Europaskeptiker die EU. In einer aufgeheizten und überzogenen Debatte um die Freizügigkeit von EU-Bürgerinnen und EU-Bürgern wird der Eindruck erweckt, dass der Ausverkauf nationaler Sozialsysteme und der massenhafte Verlust von Arbeitsplätzen für Einheimische drohen, wenn wir die Zuwanderung nicht strikt begrenzen. Selbstverständlich müssen die sozialen Probleme gelöst werden, mit denen strukturschwache Kommunen wie Duisburg oder Dortmund derzeit zu kämpfen haben. In diesen sozialen Brennpunkten müssen wir das friedliche Zusammenleben zielgerichtet mit Bildungs- und Integrationsangeboten fördern anstatt die Schwachen gegen die noch Schwächeren auszuspielen.
Natürlich müssen wir auch dafür Sorge tragen, dass gesetzliche Regelungen nicht umgangen und Fehlentwicklungen (z.B. der Missbrauch von Sozialleistungen) schnellstmöglich abgestellt werden. Darüber dürfen wir aber nicht die Freizügigkeit als eine der größten europäischen Errungenschaften grundsätzlich in Frage stellen. Denn insbesondere Deutschland profitiert maßgeblich vom Binnenmarkt und von einem offenen Europa, in dem alle EU-Bürgerinnen und Bürger ihren Wohn- und Arbeitsort frei wählen können. Um unsere wirtschaftliche Stärke und das Niveau der sozialen Sicherung zu erhalten, sind wir in Zukunft mehr denn je auf Einwanderung durch Fachkräfte aus unseren europäischen Partnerländern angewiesen.
Zum Identitätskern unserer Union gehört die Solidarität. Christinnen und Christen verstehen darunter Nächstenliebe. Die Kirchen stellen sich dem immer wieder, mal lauter, mal leiser: Sie prangern soziale Ungleichheit an. Sie erwarten von uns einen politischen Anspruch, Globalisierung aktiv zu gestalten. Die Kirchen fordern ein solidarisches Europa, ein Europa, in dem die Stärkeren für den Schwächeren einstehen. Das gilt für unsere Zusammenarbeit innerhalb der Union. Dies gilt aber auch für die Menschen, die außerhalb der EU, außerhalb Europas leben, und um nahezu jeden Preis dazu gehören wollen.
Ich denke dabei an die Flüchtlinge insbesondere aus Afrika. Sie sehnen sich nach Freiheit von Unterdrückung und Hunger - und zahlen dafür viel zu oft mit ihrem Leben.
Ich freue mich über das Engagement der Kirchen, die sich für die soziale Dimension der Europa-2020-Strategie, für die Beachtung der Menschenrechte in der europäischen Asyl- und Migrationspolitik oder für den Vorrang des Zivilen in der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik stark machen. Gerade heute bin ich mit Kirchenvertretern zusammen gekommen und ich habe viele Gemeinsamkeiten in unserer Arbeit festgestellt: der Einsatz für eine humane Flüchtlingspolitik, für zivile Konfliktprävention oder aber gegen die Diskriminierung von Homosexuellen nicht nur in Afrika.
Zusammen mit den europäischen Regierungen und der Zivilgesellschaft können die Kirchen viel dafür leisten, dass Europa sich wieder stärker seinen gemeinsamen Werten zuwendet und seinen "Neustart" nicht auf ökonomischen Eckdaten, sondern vor allem auf einem stärkeren inneren Zusammenhalt begründet.
Im Römerbrief (Brief des Paulus an die Römer) steht: "Geduld aber bringt Erfahrung; Erfahrung bringt Hoffnung." Es ist für überzeugte Europäerinnen und Europäer in den zurückliegenden Jahren nicht leichter geworden: Das europäische Geschäft erfordert bisweilen unendlich viel Geduld und Ausdauer. Meine Erfahrung sagt mir aber auch: In jeder Krise steckt ein Kern von Hoffnung. Europa hat es in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder geschafft, aus der Krise zukunftsweisende Konsequenzen zu ziehen. Wir stehen wieder vor einer schwierigen Bewährungsprobe. Wir werden das schaffen, wenn wir mit Geduld, Erfahrung und Hoffnung ans Werken gehen.
Vielen Dank.
Auswärtiges Amt
Werderscher Markt 1
10117 Berlin
Deutschland
Telefon: 030 5000-2056
Telefax: 03018-17-3402
Mail: presse@diplo.de
URL: http://www.auswaertiges-amt.de
Europa vor der Wahl: Neustart oder Niedergang?
es gilt das gesprochene Wort
Sehr geehrte Frau Dr. Maria-Luise Schneider,
]sehr geehrte Frau Dr. Gabriela Schneider,
sehr geehrter Kollege Wieland,
sehr geehrte Damen und Herren,
es freut mich, heute Abend mit Ihnen hier in der Katholischen Akademie ins Gespräch kommen zu können. Einige von Ihnen werden vielleicht wissen, dass ich Mitglied der Synode, also des Kirchenparlaments der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck und Mitglied der Kammer für Öffentliche Verantwortung der Evangelischen Kirche in Deutschland bin. Nicht nur als Politiker, sondern auch als evangelischer Christ sehe ich mich in besonderer Verantwortung, für die europäische Idee einzustehen. Deshalb will ich heute mit Ihnen gemeinsam darüber nachdenken, wie wir die Zukunft Europas wieder hoffnungsvoller gestalten können. Wenn wir an etwas glauben, dann ist das ja nicht allein im religiösen Sinne zu verstehen.
Dabei geht es stets auch um Vertrauen und Zuversicht. Beides hat Europa, die Idee des vereinten Europas, derzeit bitter nötig.
Zukunft kommt von Herkunft. Daher lassen Sie mich zunächst zum Ursprung der europäischen Integration zurückkehren: Ziel ihrer Gründerväter und -mütter war es, aus einem zerrissenen und von Kriegen schwer gebeutelten Kontinent mit unterschiedlichen nationalen Geschichten, Kulturen und Traditionen eine Gemeinschaft zu gründen, die auf gemeinsamen Werten beruhte. Die Grundwerte dieser Gemeinschaft sind die Werte der Freiheitsrevolutionen von 1789, aber auch 1989: die unveräußerliche Würde jedes Menschen, die Freiheit des Einzelnen, der Schutz von Minderheiten im Rechtsstaat, die Teilhabe aller am demokratischen Gemeinwesen, ja und eben auch die Solidarität. Werte, die auch den Kirchen zentrale Anliegen sind und waren: Würde und Gleichheit der Menschen beruhen auf der Ebenbildlichkeit Gottes, sind damit genauso fundamentale christliche Gebote wie die Nächstenliebe. Die Freiheit des Einzelnen ist undenkbar ohne die Freiheit zur Religionsausübung. Wenn wir uns dazu verpflichten, Minderheiten zu schützen, sind dies eben nicht nur ethnische oder sexuelle, sondern selbstverständlich auch religiöse.
Der griechische Schriftsteller Petros Markaris kritisierte auf dem Höhepunkt der Krise, "dass Europa viel in die Wirtschaft investiert hat, aber zu wenig in die Kultur und die gemeinsamen Werte. "Man irrt sich", so schrieb er weiter, "wenn man glaubt, dass die Krise in Europa nur eine finanzielle ist. Wir erleben auch eine Krise der europäischen Werte." So richtig es ist, mit aller Kraft dafür zu arbeiten, die Wirtschafts- und Finanzkrise zu bewältigen, werde ich nicht müde zu sagen: Europa ist weit mehr als nur ein Binnenmarkt und eine Währungsunion. Europa ist vor allem eine einzigartige Wertegemeinschaft, die weit über unsere Außengrenzen hinaus strahlt.
Am Beispiel Griechenlands, das ich seit meinem Amtsantritt im vergangenen Dezember bereits viermal besucht habe, kann man dies sehr gut beobachten. Denn so wichtig Wettbewerbsfähigkeit für die Selbstbehauptung Europas auf globalisierten Märkten sein mag, so wenig dürfen wir den inneren Zusammenhalt unserer Gesellschaften vernachlässigen. Der gesellschaftliche und soziale Zusammenhalt, der auch Belastungen standhält, ist Europas Markenkern. Wie wollen wir aber diesen Zusammenhalt bewahren, wenn in Griechenland mittlerweile mehr als jeder zweite Jugendliche zwischen 16 und 25 Jahren keinen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz hat?
In Spanien sieht es nicht besser aus, in elf weiteren Ländern liegt die Arbeitslosenquote bei jungen Menschen bei über 25 %. Viele von ihnen sehen Europa nicht mehr als ein Zukunftsversprechen, sondern als Bedrohung, sie verlieren den Glauben an Europa.
Wenn man diese soziale Krise in Europa verstehen will, dann sind persönliche Begegnungen oft noch viel eindrücklicher als nackte Zahlen. Es sind diese Begegnungen, die uns die bewegenden Einzelschicksale der Verlierer der Krise vor Augen führen. Sie verdienen ganz besonders unsere Solidarität. Einen dieser Momente habe ich kürzlich bei einer meiner Reisen nach Griechenland erlebt. In Thessaloniki begegnete ich einer jungen Frau, deren Geschichte mich tief berührt hat. Diese junge Frau, eine Diplom-Ingenieurin, Anfang 30, erzählte mir, dass sie nun bereits seit einem Jahr arbeitslos sei, keinerlei Sozialleistungen empfange und kürzlich in ihrer Not wieder bei ihren Eltern eingezogen sei. Diese Geschichte hat mir gezeigt: Wenn es einen Grund gibt, warum die soziale Explosion in Griechenland oder Spanien bislang ausgeblieben ist, dann nur aufgrund des traditionell starken familiären Zusammenhalts. Von dieser Solidarität innerhalb der Familie können wir a uch in Europa lernen.
Denn nur wenn wir in der Krise zusammenstehen und den Schwachen eine Perspektive für eine bessere Zukunft geben, dann wird Europa auch weiter als Erfolgsmodell gelten.
Wir müssen noch entschiedener daran arbeiten, die sozialen Nachwehen der Krise zu bewältigen und das Vertrauen der Menschen wieder zurückzugewinnen, die am stärksten unter der Krise gelitten haben. Das ist eine Aufgabe, die uns weit über die Wahlen zum Europäischen Parlament im Mai hinaus beschäftigen wird.
Wir brauchen Strukturreformen. Diese Strukturreformen sind allerdings kein Selbstzweck, sondern sollen gemeinsam mit höheren Investitionen in Innovationen und Wachstum dafür sorgen, dass überall in Europa Arbeitsplätze entstehen, insbesondere für Jugendliche. Europa kann sich keine Wohlstandsinseln leisten: Das Wohlstandsversprechen gilt für alle gleichermaßen, soziale Spannungen und Armut sollen abgebaut werden - zurzeit erleben wir leider vielfach das Gegenteil.
Ja, Europa braucht einen "Neustart" - im Sinne einer Verstärkung unserer Bemühungen, gemeinsame Antworten zu finden. Denn ich bin überzeugt: Europa ist nicht das Problem, sondern die Lösung für die großen Fragen unserer Zeit. Globale Themen wie die weltweite Wirtschafts- und Finanzkrise, unkontrollierte Finanzmärkte oder milliardenschwere Fonds, die binnen Sekunden Unsummen von einem Kontinent zum anderen transferieren, sind für uns alle gleichermaßen eine Herausforderung. Klimawandel und Energiewende können nicht allein national bewältigt werden. Nur ein geeintes Europa, das seine eigene Reservewährung und einen der größten Binnenmärkte der Welt in die Waagschale zu werfen vermag, wird sicherstellen können, dass unsere Regeln, unsere Werte auch im 21. und 22. Jahrhundert relevant bleiben.
Europa muss in jeder Hinsicht stärker aus der Krise hervorgehen als es hineingekommen ist.
Nur ein Europa, das vernehmbar mit einer Stimme spricht, wird jenseits seiner Grenzen eine Rolle spielen.
100 Jahre nach dem Beginn des Ersten Weltkriegs, 75 Jahre nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs und 25 Jahre nach dem Fall der Mauer ist die Frage von Krieg und Frieden, von Einheit und Spaltung unseres Kontinents nach Europa zurückgekehrt. Ein friedliches, tolerantes und weltoffenes Europa ist alles andere als eine Selbstverständlichkeit: Das Friedensnarrativ ist mitnichten überholt. Das wollte uns wohl auch die Jury in Oslo mahnend ins Gedächtnis rufen, die der Europäischen Union den Friedensnobelpreis verliehen hat. Menschen auf dem Kiewer Maidan haben mit der Europaflagge in der Hand ihr Leben riskiert, weil sie an etwas glauben, was uns selbst zu sehr zu einer puren Selbstverständlichkeit geworden ist. Ja, die Werte, für die Europa einsteht, faszinieren immer noch und geben Hoffnung. Der Ukraine deshalb ein Entweder-Oder aufzudrängen, ist dennoch falsch, für die Ukraine darf es keine Entscheidung zwischen Ost und West geben. Das wird weder der Gesch ichte des Landes gerecht noch sollte dieses Denken in den Kategorien von politischen Einflusssphären Platz in unserer heutigen Welt haben. Der Kalte Krieg ist definitiv vorbei: Die Logik des 21. Jahrhunderts muss eine von Kooperation sein, nicht von Konfrontation. Es ist doch gerade die Kraft dieses versöhnten Europas, die Vorbild für andere Regionen in der Welt sein kann.
Unsere Wertegemeinschaft macht uns stark, verpflichtet uns aber auch ganz besonders - auch nach Innen. Lassen Sie uns davor nicht zurückschrecken. Die Bundesregierung hat deshalb mit einigen anderen Mitgliedstaaten auf eine Grundwerteinitiative gedrängt. Am 11. März hat die europäische Kommission hierzu einen Vorschlag gemacht. Dabei hoffen wir auch auf die Unterstützung aus der Mitte der Zivilgesellschaft. Wir müssen glaubhaft und konsequent unsere Werte nach Innen vertreten. Helfen Sie uns bitte dabei!
Zwei Monate vor der Wahl zum Europäischen Parlament attackieren Populisten und Europaskeptiker die EU. In einer aufgeheizten und überzogenen Debatte um die Freizügigkeit von EU-Bürgerinnen und EU-Bürgern wird der Eindruck erweckt, dass der Ausverkauf nationaler Sozialsysteme und der massenhafte Verlust von Arbeitsplätzen für Einheimische drohen, wenn wir die Zuwanderung nicht strikt begrenzen. Selbstverständlich müssen die sozialen Probleme gelöst werden, mit denen strukturschwache Kommunen wie Duisburg oder Dortmund derzeit zu kämpfen haben. In diesen sozialen Brennpunkten müssen wir das friedliche Zusammenleben zielgerichtet mit Bildungs- und Integrationsangeboten fördern anstatt die Schwachen gegen die noch Schwächeren auszuspielen.
Natürlich müssen wir auch dafür Sorge tragen, dass gesetzliche Regelungen nicht umgangen und Fehlentwicklungen (z.B. der Missbrauch von Sozialleistungen) schnellstmöglich abgestellt werden. Darüber dürfen wir aber nicht die Freizügigkeit als eine der größten europäischen Errungenschaften grundsätzlich in Frage stellen. Denn insbesondere Deutschland profitiert maßgeblich vom Binnenmarkt und von einem offenen Europa, in dem alle EU-Bürgerinnen und Bürger ihren Wohn- und Arbeitsort frei wählen können. Um unsere wirtschaftliche Stärke und das Niveau der sozialen Sicherung zu erhalten, sind wir in Zukunft mehr denn je auf Einwanderung durch Fachkräfte aus unseren europäischen Partnerländern angewiesen.
Zum Identitätskern unserer Union gehört die Solidarität. Christinnen und Christen verstehen darunter Nächstenliebe. Die Kirchen stellen sich dem immer wieder, mal lauter, mal leiser: Sie prangern soziale Ungleichheit an. Sie erwarten von uns einen politischen Anspruch, Globalisierung aktiv zu gestalten. Die Kirchen fordern ein solidarisches Europa, ein Europa, in dem die Stärkeren für den Schwächeren einstehen. Das gilt für unsere Zusammenarbeit innerhalb der Union. Dies gilt aber auch für die Menschen, die außerhalb der EU, außerhalb Europas leben, und um nahezu jeden Preis dazu gehören wollen.
Ich denke dabei an die Flüchtlinge insbesondere aus Afrika. Sie sehnen sich nach Freiheit von Unterdrückung und Hunger - und zahlen dafür viel zu oft mit ihrem Leben.
Ich freue mich über das Engagement der Kirchen, die sich für die soziale Dimension der Europa-2020-Strategie, für die Beachtung der Menschenrechte in der europäischen Asyl- und Migrationspolitik oder für den Vorrang des Zivilen in der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik stark machen. Gerade heute bin ich mit Kirchenvertretern zusammen gekommen und ich habe viele Gemeinsamkeiten in unserer Arbeit festgestellt: der Einsatz für eine humane Flüchtlingspolitik, für zivile Konfliktprävention oder aber gegen die Diskriminierung von Homosexuellen nicht nur in Afrika.
Zusammen mit den europäischen Regierungen und der Zivilgesellschaft können die Kirchen viel dafür leisten, dass Europa sich wieder stärker seinen gemeinsamen Werten zuwendet und seinen "Neustart" nicht auf ökonomischen Eckdaten, sondern vor allem auf einem stärkeren inneren Zusammenhalt begründet.
Im Römerbrief (Brief des Paulus an die Römer) steht: "Geduld aber bringt Erfahrung; Erfahrung bringt Hoffnung." Es ist für überzeugte Europäerinnen und Europäer in den zurückliegenden Jahren nicht leichter geworden: Das europäische Geschäft erfordert bisweilen unendlich viel Geduld und Ausdauer. Meine Erfahrung sagt mir aber auch: In jeder Krise steckt ein Kern von Hoffnung. Europa hat es in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder geschafft, aus der Krise zukunftsweisende Konsequenzen zu ziehen. Wir stehen wieder vor einer schwierigen Bewährungsprobe. Wir werden das schaffen, wenn wir mit Geduld, Erfahrung und Hoffnung ans Werken gehen.
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