09.05.2014 11:23 Uhr in Gesellschaft & Familie von Auswärtiges Amt

Rede von Frank-Walter Steinmeier auf der Konferenz 'Europa – Traum und Wirklichkeit' der Alfred Herrhausen Gesellschaft am 09. Mai 2014 in Berlin

Kurzfassung: Rede von Frank-Walter Steinmeier auf der Konferenz "Europa - Traum und Wirklichkeit" der Alfred Herrhausen Gesellschaft am 09. Mai 2014 in Berlines gilt das gesprochene WortLieber Thomas Matussek,lie ...
[Auswärtiges Amt - 09.05.2014] Rede von Frank-Walter Steinmeier auf der Konferenz "Europa - Traum und Wirklichkeit" der Alfred Herrhausen Gesellschaft am 09. Mai 2014 in Berlin

es gilt das gesprochene Wort
Lieber Thomas Matussek,
liebe Gäste aus Kunst, Wissenschaft, Wirtschaft und Politik,
liebe Gäste aus nah und fern,
Im Mai 1988 kamen Schriftstellerinnen und Schriftsteller in West-Berlin zusammen und träumten den Traum von Europa.
Sie kamen aus Ost und West, Nord und Süd, und auch von weiter her: Susan Sontag aus den USA zum Beispiel und Kuma Ndumbe aus Kamerun. Gemeinsam träumten sie vom geeinten Europa.
"Wir ahnten nicht, wie nah wir der Utopie waren", schreibt einer, der dabei war.
So wie die Schriftsteller träumten damals auch Menschen in der anderen Hälfte der geteilten Stadt.
Binnen Monaten brach ihr Traum sich Bahn. Er trieb friedliche Revolutionäre auf den Prager Wenzelsplatz, zu den Danziger Werften, vor die Leipziger Nikolaikirche.
Stück um Stück rissen die Träumer den Eisernen Vorhang herunter.
Das ist jetzt ein Vierteljahrhundert her.
Doch wenn ich heute als Außenminister in der Welt unterwegs bin, dann merke ich, dass solche Träume noch geträumt werden.
Und längst nicht nur in Europa, ja vor allem außerhalb Europas!
Es sind Träume von jungen Menschen in Angola, die mir gesagt haben: 'Auch wir wollen eine Gesellschaft, in der Wohlstand und Arbeit und Bildung bei allen ankommen, nicht nur bei wenigen.'
Es sind Träume von jungen Menschen in Tunesien, die leben wollen, wie sie wollen, und die sagen wollen, was sie wollen.
Diese jungen Menschen haben einen Ort vor Augen, wo dieser Traum aus ihrer Sicht Wirklichkeit ist, und -ich habe es selbst gehört- sie nennen ihn "Balad Euroba" - das 'Land Europa'.
Vor zwei Wochen traf ich gemeinsam mit Laurent Fabius in Chisinau den moldawischen Präsidenten. Ganz hinten im Raum habe ich einen Mitarbeiter gesehen -ich habe meinen Augen kaum getraut: der trug eine blaue Krawatte gesprenkelt mit goldenen Sternen - eine Europa-Krawatte! Wer trägt in Brüssel, Berlin oder Paris heute Europa-Krawatten?
Das, meine Damen und Herren, empfinde ich als einen echten Luxus in meinem Amt als Außenminister: dass ich nicht nur hinausschauen darf in die Welt, sondern auch umgekehrt zurückschauen nach Hause: zurück nach Europa.
Und eines kann ich Ihnen sagen: Europa sieht für viele Menschen von außen sehr viel attraktiver aus, als es sich von innen, in Talkshows und auf Wahlplakaten, manchmal anfühlt.
Da draußen - in Chisinau, in Tunis oder in Luanda - bleibt Europa für viele ein Traum, auch wenn sie weit weg leben mögen.
Was macht ihn aus, diesen Traum von Europa?
Es ist der Traum von einer Gesellschaft, die Freiheit und sozialen Zusammenhalt verbindet.
Die die Vielfalt der Lebensentwürfe über den Zwang zur Anpassung stellt.
In der man springen kann und sicher fällt.
Und hier ist noch etwas, das wir uns viel zu selten klar machen:
Dieses Modell ist einzigartig auf der Welt.
Es ist anders als der reine Individualismus, als Märkte ohne Grenzen.
Und es ist anders als der Obrigkeitsstaat, der 'Big Brother'.
Das Modell Europa steht zwischen diesen Polen. Das Modell Europa ist die Hoffnung auf eine nie selbstverständliche, immer wieder neu herzustellende Balance von Freiheit und Sicherheit.
Der Traum von Europa ist nach wie vor kein naiver Traum. Er ist beileibe nicht in einer sternklaren Nacht vom Himmel gefallen. Sondern er ist zaghaft gewachsen nach Jahrhunderten von Albträumen.
Wenn ich heute in diesen Saal schaue, dann spiegelt sich Europa mit seinen Träume und seinen Albträumen in vielen Biographien. Zu einer davon will ich heute einige Worte sagen.
An der Schriftsteller-Konferenz vor 26 Jahren nahm auch die ungarische Philosophin àgnes Heller teil. Sie hat in ihrem langen Leben die Albträume Europas an Leib und Seele erfahren.
Der Anblick der Donau in ihrer Heimatstadt bereitet ihr noch heute böse Träume. Als kleines jüdisches Mädchen entfloh sie den Erschießungen der Nazis am Donau-Ufer.
Nach dem Krieg hat sie, wie viele Intellektuelle, den Traum vom Kommunismus geträumt. Auch der entpuppte sich als Albtraum: mit politischer Schikane, verwanzten Wohnzimmern und ständiger Kontrolle im Leben und im Denken.
Schon einmal -1968- hatte àgnes Heller ein Manifest von europäischen Schriftstellern unterzeichnet: zur Solidarität mit den Revolutionären des Prager Frühlings.
Doch das verstärkte nur die politische Verfolgung, die sie schließlich aus ihrer Heimatstadt Budapest vertrieb, zuerst nach Australien, und schließlich nach New York, als Nachfolgerin auf Hannah Arendts berühmten Lehrstuhl an der New School.
1988 also flog àgnes Heller von New York nach Berlin. Sie haben wohl auf diesem Flug nicht zu hoffen gewagt, liebe Agnes Heller, wie nah sich Traum und Wirklichkeit nur wenige Monate später kommen würden.
Heute, 26 Jahre später, treffen sich erneut Schriftsteller, Intellektuelle und Wissenschaftler hier in Berlin. Und àgnes Heller, nur zwei Tage vor ihrem 85. Geburtstag, ist wieder dabei - herzlich willkommen!
Sie haben einmal geschrieben: "Man kann zur gleichen Zeit sich erinnern, jubilieren, mahnen und hoffen." Genau das tun wir auf dieser Konferenz, und genau das braucht Europa.
Manch einer mag uns fragen:
Ist es eigentlich an der Zeit, von Träumen zu sprechen, während Europa zwar seine Wirtschaftskrise langsam hinter sich lässt, die politische Krise im Innern aber weiter nagt?
Ist es Zeit zum Träumen, wenn auf diesem Kontinent die schwerste außenpolitische Krise seit Ende des Kalten Krieges tobt?
Ja, aus genau diesen Gründen ist es an der Zeit.
Denn diese Konferenz gehört für mich zur Arbeit an Europa. Die Arbeit an Europa darf nicht nur in den Hinterzimmern und auf den Brüsseler Räten stattfinden; sie darf nicht nur Sache der Politik sein. Sie muss raus in eine breite Öffentlichkeit, sie muss offen sein und streitbar.
Manch einer fragt mich: "Herr Steinmeier, wie passt das eigentlich zusammen? Sie erzählen uns, da draußen in der Welt schauen viele Menschen mit Respekt und Wohlwollen auf das 'Modell Europa'. Aber hier bei uns sind viele von Europa frustriert und Anti-Europa-Populisten schlagen laute Töne an."
Ich sehe darin keinen Widerspruch - im Gegenteil. Europa ist streitbarer geworden! Die Europäische Union hat über die letzten Jahrzehnte Institutionen entwickelt, die mehr sind als eine lose Koordinierung zwischen Staaten.
Die Europäische Union und die Eurozone entscheiden heute viele Fragen per Mehrheitsentscheid unter Staaten. Auch das ist einmalig auf der Welt. Nur führt es dazu, dass mittlerweile Interessenkonflikte auf europäischer Ebene ausgetragen werden, die manchmal an das Herz staatlicher Souveränität rühren: Fragen von Arbeit und Finanzen und Verteilung.
Europa ist streitbarer geworden, und das ist gut so. Die Menschen haben an dieses Europa hohe Ansprüche - zu Recht!
Je stärker und streitbarer Europa ist, desto demokratischer und transparenter muss es sein.
Europa soll "groß in großen Fragen, klein in kleinen Fragen" sein. Das stimmt. Aber was genau die großen Fragen für Europa für die nächsten Jahre sind, darüber muss ganz Europa diskutieren - und zwar miteinander und nicht nur übereinander. Dafür ist diese Konferenz heute ein Forum.
Die dringendste Arbeit Europas liegt in diesen Wochen zweifelsohne an den Rändern der Union - im Konflikt um die Ukraine.
Auf ihrer Konferenz 1988 verfassten die Schriftsteller einen offenen Brief an Reagan, Gorbatschow und die anderen Regierungschefs der KSZE. Darin riefen sie: "Sind Sie nicht auch der Ansicht, dass die Überwindung der Spaltung Europas auf die Tagesordnung der Politik gehört?"
Die Frage klingt in diesen Tagen beklemmend aktuell. Genau wie die Schriftsteller damals nicht ahnten, dass die Spaltung Europas bald zu Ende gehen sollte, so wenig ahnten die Organisatoren der Konferenz von 2014, dass wir heute um eine neue Spaltung fürchten müssen.
Die Lage im Osten und Süden der Ukraine ist erschreckend - keine Frage. Aber ich bin überzeugt: Noch ist es nicht zu spät. Noch kann Vernunft die Oberhand gewinnen. Doch sie kann nur die Oberhand gewinnen, wenn alle Beteiligten bereit sind, zurück auf den Weg der Diplomatie zu finden - allen voran Moskau und Kiew. Und vor allem dadurch, dass es Wahlen in der Ukraine gibt.
Ich glaube, diese Ukraine-Krise gibt vielen von uns - mir ganz gewiss - einen neuen Blick auf die Europapolitik der letzten Jahre.
Irgendwie war uns der Kern von Europa zur Selbstverständlichkeit geworden. Dieser Kern heißt: Frieden. Gerade für viele junge Menschen in Europa ist der Friede über Jahrzehnte hinweg ein genauso natürlicher Teil von Europa wie Easyjet und Erasmus-Austausch gewesen.
Doch die Ukraine-Krise macht uns dramatisch deutlich, dass der Gründungsgrund von Europa sich absolut nicht erledigt hat! Sie zeigt, dass die Erfahrung der Gründerväter Europas - gesammelt in zwei Weltkriegen mit Millionen Toten - doch nicht aufgebraucht ist.
Um dieses Projekt in seinem ganzen Ausmaß zu beschreiben, braucht man gar nicht viele Worte. Man braucht nur zwei Stifte und eine Landkarte. So hat es Robert Menasse in seinem Buch "Der Europäische Landbote" getan.
Menasse sagt: "Wenn man auf einer Europakarte alle politischen Grenzen, die es im Lauf der Geschichte je gegeben hat, mit einem schwarzen Stift einzeichnet, dann liegt am Ende über diesem Kontinent ein enges Netz. […] Wenn man dann auf dieser Karte für jeden Krieg, der in Europa je stattgefunden hat, mit einem roten Stift eine Linie zwischen den kriegführenden Parteien zieht, Schlachtfelder und Frontverläufe markiert, dann verschwindet das Netz der Grenzen völlig unter einem einzigen rotgefärbten Feld."
Worte braucht es nicht, nur die beiden Stifte!
Das macht den Auftrag für Außenpolitik in diesen Tagen - ganz ohne Worte - so unmissverständlich klar: Dafür zu sorgen, dass schwarze Linien nicht weiter verschoben werden und vor allem: dass keine roten Linien hinzukommen.
Ich weiß, Diplomatie bewegt sich immer nur in kleinen Schritten vorwärts. Und jeder Gewaltakt, jede Hausbesetzung wirft sie meterweit zurück. Aber trotz alle dem: Wir müssen uns vorwärts bewegen! Aufgeben ist keine Option!

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