10.06.2014 09:52 Uhr in Kultur & Kunst von Universität Bayreuth
Migration als "Normalfall mit innovativem Potenzial
Kurzfassung: Migration als "Normalfall mit innovativem Potenzial"Notunterkünfte in Zeltdörfern, überfüllte Boote auf den Meeren und kilometerlange Trecks auf staubigen Straßen bestimmen oft die Darstellung vo ...
[Universität Bayreuth - 10.06.2014] Migration als "Normalfall mit innovativem Potenzial"
Notunterkünfte in Zeltdörfern, überfüllte Boote auf den Meeren und kilometerlange Trecks auf staubigen Straßen bestimmen oft die Darstellung von ‚Migration und ‚Flucht in den Medien, ohne dass beide Begriffe klar unterschieden werden. Auch politische Diskussionen über die Ursachen und Folgen dieser Prozesse lassen sich nicht selten von solchen eindrücklichen Bildern leiten. Ein verantwortungsbewusster Umgang mit Flüchtlingen und Migranten setzt jedoch ein sachlich fundiertes, hinreichend differenzierendes Verständnis ihrer jeweiligen Lebensverhältnisse, Interessen und Ziele voraus.
Der Bundestagsausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung unter Vorsitz von Dagmar G. Wöhrl, MdB, hat daher am 4. Juni 2014 eine öffentliche Anhörung von Sachverständigen unter dem Rahmenthema "Flüchtlinge, Migration und Entwicklungspolitik" veranstaltet. Dabei ging es zunächst um "Formen der Migration und Flucht von Menschen in Entwicklungsländern - Ursachen, Motivationen und Größenordnung". Prof. Dr. Martin Doevenspeck vom Geographischen Institut der Universität Bayreuth, der zugleich Vizesprecher der Bayreuth International Graduate School of African Studies (BIGSAS) ist, war hierfür als Experte eingeladen worden. In seinen Stellungnahmen während des Hearings konnte er sich auf langjährige eigene Forschungsarbeiten stützen - sei es zu Migrationsprozessen in Westafrika oder zu bewaffneten Konflikten im Bereich der Großen Seen in Zentralafrika, insbesondere in der Demokratischen Republik Kongo.
Gegenüber den im Ausschuss vertretenen Bundestagsabgeordneten machte Prof. Doevenspeck darauf aufmerksam, dass die internationale Migration - verstanden als räumliche Verlegung des Lebensmittelpunktes in ein anderes Land - weltweit nicht gestiegen ist, wenn man sie ins Verhältnis zum globalen Bevölkerungswachstum setzt. Internationale Migranten machen heute, genauso wie bereits 1960, nur rund 3 Prozent der Weltbevölkerung aus. Viel stärker fällt die Binnenmigration, also die Migration innerhalb eines Landes, ins Gewicht. Schätzungen gehen derzeit von weltweit 760 Millionen Binnenwanderern aus, die zu einem großen Teil in den bevölkerungsreichen Staaten China, Indien, Indonesien, Nigeria und Brasilien leben. Auch die Migration innerhalb größerer regionaler Einheiten ist auffällig. So bleiben 70 Prozent aller internationalen Migranten, die aus westafrikanischen Ländern stammen, in Westafrika.
Der Bayreuther Experte für Politische Geographie betonte, dass Migration in den meisten Fällen nicht durch Armut und Gewalt erzwungen, sondern Ausdruck einer persönlichen Lebensentscheidung sei. Er forderte deshalb von der Politik eine stärkere Bereitschaft, Migration als Ausdruck einer Strategie anzuerkennen, die auf bessere Lebensbedingungen und auf die Realisierung bestimmter Lebensstile ausgerichtet ist. Infolge der Globalisierung sei weltweit mit einem Anstieg von Migrationsprozessen zu rechnen, die auf diese Weise motiviert sind.
"Migrationsverhinderung kann kein politisches Ziel sein", erklärte Prof. Doevenspeck daher im Bundestagsausschuss. Gerade die ökonomischen Fortschritte in ärmeren Ländern würden dazu führen, dass den Menschen dort grundsätzlich mehr finanzielle Mittel für eigene Mobilität zur Verfügung stehen. In diesem Zusammenhang wies er darauf hin, dass Migrationsprozesse aus der Perspektive der wohlhabenden westlichen Industrieländer sehr verzerrt wahrgenommen und bewertet würden. Räumliche Mobilität im Globalen Norden gelte als Ausdruck von Erfolg, Wohlstand und Freiheit; finde sie im Globalen Süden statt, werde sie jedoch häufig als Folge von Mangel und Unordnung aufgefasst.
Damit gehe die Vorstellung einher, Migration in den Ländern des Südens sei eine Abweichung von einem ‚Normalzustand, der mit politischen Konzepten und Maßnahmen wiederherstellt werden müsse. Diese Absicht orientiere sich jedoch an einem rückständigen Ideal von Sesshaftigkeit, so Prof. Doevenspeck. Vieles deute derzeit auf eine "Generalisierung" von Migrationsprozessen hin, die tendenziell alle Regionen in der Welt betreffe. Die sozialgeographische Forschung komme heute zu der Erkenntnis, dass räumliche Mobilität im Zeitalter der Globalisierung den gesellschaftlichen Aufstieg des Einzelnen entscheidend fördert und mit dafür ausschlaggebend ist, welcher sozialen Schicht man angehört. Die Netzwerke, welche die Einwanderer in ihren jeweiligen Zielländern ausbilden, würden in vielen Fällen dazu beitragen, internationale Mobilität zu verstärken: "Migration führt zu mehr Migration."
Wie sich diese Entwicklungen auf die Ziel- und Herkunftsländer der Einwanderer auswirken, ob Verteilungskonflikte verschärft werden, ein einseitiger "Brain drain" stattfindet oder ob Migrationsprozesse sich auf Ziel- und Herkunftsländer gleichermaßen vorteilhaft auswirken - dies alles hänge, so Prof. Doevenspeck, wesentlich davon ab, wie Migrationsprozesse seitens der Politik begleitet und gestaltet werden. Er plädiert dafür, diese Prozesse und sogar die damit möglicherweise verbundenen Konflikte "als Normalfall mit innovativem Potenzial und nicht als Problem an sich" wahrzunehmen.
"Die Bundestagsabgeordneten im Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung haben meine Ausführungen sehr positiv aufgenommen", berichtet der Bayreuther Experte. "Ich denke, es ist im Verlauf der Anhörung deutlich geworden, wie wichtig es ist, sich von klischeehaften Vorstellungen über die Ursachen und die Größenordnungen von Wanderungsbewegungen zu lösen. Der Erfolg rechtspopulistischer Parteien in jüngster Zeit ist ja nicht zuletzt auch auf solche Fehleinschätzungen zurückzuführen. Umso mehr ist eine realistische Perspektive gefordert, die Migration nicht von vornherein mit ‚Flucht gleichsetzt und sie vielmehr als integralen Bestandteil der Globalisierung anerkennt. Auf dieser Grundlage werden politische Entscheidungsträger das innovative Potenzial von Migrationsprozessen nutzen können."
Informationen auf der Homepage des Deutschen Bundestags:
www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2014/anhoerung-zuwanderung/281420
Kontakt:
Prof. Dr. Martin Doevenspeck
Professur für Raumbezogene Konfliktforschung
Universität Bayreuth
Geographisches Institut
D-95440 Bayreuth
Tel.: +49 (0)921 55 2273
E-Mail: doevenspeck@uni-bayreuth.de
Notunterkünfte in Zeltdörfern, überfüllte Boote auf den Meeren und kilometerlange Trecks auf staubigen Straßen bestimmen oft die Darstellung von ‚Migration und ‚Flucht in den Medien, ohne dass beide Begriffe klar unterschieden werden. Auch politische Diskussionen über die Ursachen und Folgen dieser Prozesse lassen sich nicht selten von solchen eindrücklichen Bildern leiten. Ein verantwortungsbewusster Umgang mit Flüchtlingen und Migranten setzt jedoch ein sachlich fundiertes, hinreichend differenzierendes Verständnis ihrer jeweiligen Lebensverhältnisse, Interessen und Ziele voraus.
Der Bundestagsausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung unter Vorsitz von Dagmar G. Wöhrl, MdB, hat daher am 4. Juni 2014 eine öffentliche Anhörung von Sachverständigen unter dem Rahmenthema "Flüchtlinge, Migration und Entwicklungspolitik" veranstaltet. Dabei ging es zunächst um "Formen der Migration und Flucht von Menschen in Entwicklungsländern - Ursachen, Motivationen und Größenordnung". Prof. Dr. Martin Doevenspeck vom Geographischen Institut der Universität Bayreuth, der zugleich Vizesprecher der Bayreuth International Graduate School of African Studies (BIGSAS) ist, war hierfür als Experte eingeladen worden. In seinen Stellungnahmen während des Hearings konnte er sich auf langjährige eigene Forschungsarbeiten stützen - sei es zu Migrationsprozessen in Westafrika oder zu bewaffneten Konflikten im Bereich der Großen Seen in Zentralafrika, insbesondere in der Demokratischen Republik Kongo.
Gegenüber den im Ausschuss vertretenen Bundestagsabgeordneten machte Prof. Doevenspeck darauf aufmerksam, dass die internationale Migration - verstanden als räumliche Verlegung des Lebensmittelpunktes in ein anderes Land - weltweit nicht gestiegen ist, wenn man sie ins Verhältnis zum globalen Bevölkerungswachstum setzt. Internationale Migranten machen heute, genauso wie bereits 1960, nur rund 3 Prozent der Weltbevölkerung aus. Viel stärker fällt die Binnenmigration, also die Migration innerhalb eines Landes, ins Gewicht. Schätzungen gehen derzeit von weltweit 760 Millionen Binnenwanderern aus, die zu einem großen Teil in den bevölkerungsreichen Staaten China, Indien, Indonesien, Nigeria und Brasilien leben. Auch die Migration innerhalb größerer regionaler Einheiten ist auffällig. So bleiben 70 Prozent aller internationalen Migranten, die aus westafrikanischen Ländern stammen, in Westafrika.
Der Bayreuther Experte für Politische Geographie betonte, dass Migration in den meisten Fällen nicht durch Armut und Gewalt erzwungen, sondern Ausdruck einer persönlichen Lebensentscheidung sei. Er forderte deshalb von der Politik eine stärkere Bereitschaft, Migration als Ausdruck einer Strategie anzuerkennen, die auf bessere Lebensbedingungen und auf die Realisierung bestimmter Lebensstile ausgerichtet ist. Infolge der Globalisierung sei weltweit mit einem Anstieg von Migrationsprozessen zu rechnen, die auf diese Weise motiviert sind.
"Migrationsverhinderung kann kein politisches Ziel sein", erklärte Prof. Doevenspeck daher im Bundestagsausschuss. Gerade die ökonomischen Fortschritte in ärmeren Ländern würden dazu führen, dass den Menschen dort grundsätzlich mehr finanzielle Mittel für eigene Mobilität zur Verfügung stehen. In diesem Zusammenhang wies er darauf hin, dass Migrationsprozesse aus der Perspektive der wohlhabenden westlichen Industrieländer sehr verzerrt wahrgenommen und bewertet würden. Räumliche Mobilität im Globalen Norden gelte als Ausdruck von Erfolg, Wohlstand und Freiheit; finde sie im Globalen Süden statt, werde sie jedoch häufig als Folge von Mangel und Unordnung aufgefasst.
Damit gehe die Vorstellung einher, Migration in den Ländern des Südens sei eine Abweichung von einem ‚Normalzustand, der mit politischen Konzepten und Maßnahmen wiederherstellt werden müsse. Diese Absicht orientiere sich jedoch an einem rückständigen Ideal von Sesshaftigkeit, so Prof. Doevenspeck. Vieles deute derzeit auf eine "Generalisierung" von Migrationsprozessen hin, die tendenziell alle Regionen in der Welt betreffe. Die sozialgeographische Forschung komme heute zu der Erkenntnis, dass räumliche Mobilität im Zeitalter der Globalisierung den gesellschaftlichen Aufstieg des Einzelnen entscheidend fördert und mit dafür ausschlaggebend ist, welcher sozialen Schicht man angehört. Die Netzwerke, welche die Einwanderer in ihren jeweiligen Zielländern ausbilden, würden in vielen Fällen dazu beitragen, internationale Mobilität zu verstärken: "Migration führt zu mehr Migration."
Wie sich diese Entwicklungen auf die Ziel- und Herkunftsländer der Einwanderer auswirken, ob Verteilungskonflikte verschärft werden, ein einseitiger "Brain drain" stattfindet oder ob Migrationsprozesse sich auf Ziel- und Herkunftsländer gleichermaßen vorteilhaft auswirken - dies alles hänge, so Prof. Doevenspeck, wesentlich davon ab, wie Migrationsprozesse seitens der Politik begleitet und gestaltet werden. Er plädiert dafür, diese Prozesse und sogar die damit möglicherweise verbundenen Konflikte "als Normalfall mit innovativem Potenzial und nicht als Problem an sich" wahrzunehmen.
"Die Bundestagsabgeordneten im Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung haben meine Ausführungen sehr positiv aufgenommen", berichtet der Bayreuther Experte. "Ich denke, es ist im Verlauf der Anhörung deutlich geworden, wie wichtig es ist, sich von klischeehaften Vorstellungen über die Ursachen und die Größenordnungen von Wanderungsbewegungen zu lösen. Der Erfolg rechtspopulistischer Parteien in jüngster Zeit ist ja nicht zuletzt auch auf solche Fehleinschätzungen zurückzuführen. Umso mehr ist eine realistische Perspektive gefordert, die Migration nicht von vornherein mit ‚Flucht gleichsetzt und sie vielmehr als integralen Bestandteil der Globalisierung anerkennt. Auf dieser Grundlage werden politische Entscheidungsträger das innovative Potenzial von Migrationsprozessen nutzen können."
Informationen auf der Homepage des Deutschen Bundestags:
www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2014/anhoerung-zuwanderung/281420
Kontakt:
Prof. Dr. Martin Doevenspeck
Professur für Raumbezogene Konfliktforschung
Universität Bayreuth
Geographisches Institut
D-95440 Bayreuth
Tel.: +49 (0)921 55 2273
E-Mail: doevenspeck@uni-bayreuth.de
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