Michael Hüther im Handelsblatt: Auf tönernen Füßen

Kurzfassung: Michael Hüther im Handelsblatt: Auf tönernen FüßenMichael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln, beschreibt in einem Gastbeitrag im Handelsblatt neue ökonomische Risiken ...
[Institut der deutschen Wirtschaft Köln e.V. IW Köln - 25.07.2014] Michael Hüther im Handelsblatt: Auf tönernen Füßen

Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln, beschreibt in einem Gastbeitrag im Handelsblatt neue ökonomische Risiken aufgrund der Misere in Russland.
Die Außenminister der Europäischen Union haben sich noch nicht auf verschärfte Sanktionen gegen Russland einigen können, trotz der Empörung und Erschütterung nach dem Flugzeugabsturz in der Ostukraine. Seit einem halben Jahr sind die Europäische Union und die Vereinigten Staaten nun mit einer geopolitischen Situation konfrontiert, die Unsicherheit begründet, vor allem aber Rätsel aufgibt. Denn der Störenfried und Gegenspieler, der russische Präsident Wladimir Putin, agiert nicht nur mit verdeckten Karten, es gibt auch keine wirklich überzeugende Deutung seiner Motivlage, die das Handeln angesichts fortschreitender politischer Isolation und ökonomischer Schwächung plausibel in einen rationalen Kontext einordnet.
Russlands Volkswirtschaft steht auf tönernen Füßen, die Entwicklung einer wettbewerbsfähigen Basis jenseits von Erdöl und Erdgas ist seit der Jahrtausendwende nicht vorangekommen. Selbst für die Ausbeutung der Rohstoffe müssen Maschinen importiert werden. Zwar konnten seit 2000 das reale Einkommen je Einwohner verdoppelt und die Armutsgefährdungsquote vermindert werden, doch dies ist allein dem Rohstoffgeschäft geschuldet. Das Innovationssystem ist staatlicher Hand und taugt wenig, die demografische Situation ist - beispielhaft gemessen an der Lebenserwartung - katastrophal.
Die Krise hat zu massiven Kapitalabflüssen geführt. Im ersten Quartal 2014 haben private Investoren 51 Milliarden US-Dollar aus Russland abgezogen; die ausländischen Direktinvestitionen lagen lediglich bei 9,8 Milliarden Dollar nach 36,6 Milliarden im Jahr zuvor. Den Abwertungsdruck konnte die russische Zentralbank nur durch eine kräftige Zinserhöhung im Februar sowie massive Interventionen begrenzen, gut zehn Prozent der Währungsreserven wurden dafür eingesetzt. Trotzdem hat der Rubel gegenüber dem Euro seit November 2014 um rund 17 Prozent abgewertet. Die finanziellen Folgen der Annexion der Krim sind bereits zu spüren.
Die jetzt angekündigte Importersatz-Strategie mutiert angesichts des bedeutenden Staatsanteils an den Großunternehmen zu staatlicher Investitionslenkung und ist deshalb wenig überzeugend. Ein ökonomischer Ertrag der Ukraine-Politik Putins ist nicht erkennbar. Der politische Ertrag mag innenpolitisch allenfalls in der Tarnung der wirtschaftlichen Schwäche liegen. Doch weit trägt so etwas nie.
Die europäischen Außenminister sehen bisher von weiteren Sanktionen ab, weil die Rückwirkungen auf Europa nicht zu vernachlässigen seien. Dabei steht weniger die Gefährdung des Exports im Fokus als vielmehr der Rückschlag auf das ohnehin noch schwächelnde Bankensystem, das bei russischen Unternehmen 190 Milliarden Euro Kredite ausstehen hat.
Auch aus der Wirtschaft kommen Hinweise, dass die Sanktionen bereits erkennbar auf die deutsche Wirtschaft wirken. Das betrifft regional Unternehmen aus den neuen Bundesländern, weil sie traditionell stärker auf dem russischen Markt engagiert sind. Und das betrifft Branchen, die bereits seit Monaten über Schwierigkeiten bei der Finanzierung des Russland-Geschäfts berichten. Doch die Belastungen sind bei insgesamt robuster Konjunktur verkraftbar, zudem sind die deutschen Exporteure flexibel genug, andere Zielregionen zu nutzen.
Deshalb ist es bei der Frage nach den möglichen Folgen deutlich verschärfter Sanktionen sinnvoll, den Blick nicht nur auf die ökonomischen Verflechtungen mit Russland zu richten, sondern ebenso auf die strukturellen Veränderungen in der Weltwirtschaft seit der Finanz- und Wirtschaftskrise 2009. Auffällig ist, dass trotz des guten Geschäftsklimas und des fortgeschrittenen Konjunkturzyklus das Investitionsgeschehen eher schwach ist. Dieser Befund gilt seit der Krise 2009, und er gilt für die Industrieländer; aber auch die globale Investitionsquote verharrt mit gut 21 Prozent auf dem niedrigsten Niveau seit 1970. Dazu fügt sich, dass die Kapitalmarktzinsen seit längerem im historischen Vergleich sehr niedrig sind, was nicht nur durch eine relative Sparschwemme zu erklären ist, sondern ebenso durch die global seit den 1980er-Jahren gesunkene Investitionsquote.
Man muss deshalb nicht die These von Larry Summers bemühen, der eine säkulare Stagnation konstatiert. Aber in diesen Daten findet sich schon der Hinweis, dass sich die Investitionsbedingungen unabhängig von der akuten Verunsicherung fundamentaler verändern, als es derzeit wahrgenommen wird. Sicherlich haben die Krisen seit 2000 die Risiko-Aversion erhöht. Zugleich fehlt erkennbar die Fantasie für neue Wachstumsimpulse, vor allem aber: Die Struktur der geopolitischen Risiken gerät in ein neues Licht, die Selbstverständlichkeiten der vergangenen zwei Dekaden beim Blick auf die dynamischen Antriebe der Weltwirtschaft schwinden - erst schleichend und wegen der regionalen Differenzierung fast unbemerkt. Doch: Die Schwellenländer verlangen eine Neubewertung.
Erste Hinweise gab es im vergangenen Jahr nach der Ankündigung der US-Notenbank, das Anleihekaufprogramm schrittweise zu reduzieren, als sofort Kapitalabflüsse aus den Emerging Markets folgten. Das dort geparkte Geld hat keine nachhaltigen Investitionsoptionen gefunden. Eine nähere Analyse macht zudem deutlich, dass sich - betrachtet man den konjunkturellen Frühindikator der OECD - die gesamtwirtschaftliche Dynamik in den großen Schwellenökonomien (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika, Indonesien, Türkei) seit 2010 kontinuierlich verringert hat. Der Aufschwung seit der großen Krise war dagegen, unterbrochen durch den Einbruch im Jahr 2012, von den etablierten Industrieländern getragen. An diesen Trends sind derzeit wenig Änderungen zu erwarten: Die Konjunkturaussichten signalisieren eine weitere Stabilisierung der entwickelten Ökonomien; Europa befindet sich insgesamt wieder auf dem Weg der Stärkung.
Die Schwächung der Emerging Markets erklärt sich insbesondere durch den Stillstand, wenn nicht Rückschritt bei der Ausbildung moderner und verlässlicher Institutionen. Der Weltbank-Bericht "Doing Business" platziert Russland auf Rang 92 (von 185), China auf 96, Brasilien auf 116, und Indien auf 134. Der Abstand zwischen den traditionellen Industrieländern mit hohem Einkommen und den anderen Ländergruppen ist robust. Dies spiegelt sich in dem Befund von Transparency International für die Korruptionsneigung: Dort landet Russland auf Platz 127 (von 175), Indien auf 94, China auf 80 und Brasilen auf 72. Wirtschaftliche Aufholjagden werden nicht automatisch zu stabilen Entwicklungsprozessen, sondern bedürfen dafür ständig einer glaubwürdigen Politik der Marktöffnung, einer verlässlichen Verwaltung und der Rechtssicherheit. Die Gründung einer eigenen Entwicklungsbank durch die Brics-Staaten verstärkt den Staatseinfluss stattdessen und hilft deshalb nicht.
Das alles spricht nicht gegen ein Engagement in solchen Märkten, es verlangt aber einen differenzierten Blick, und es warnt vor Euphorie. Natürlich sind Russland und China gigantische Märkte mit großem Potenzial. Doch der einseitige Fokus auf Kosten und Nachfrage ignoriert, was Investoren wichtig sein muss: gute Institutionen. Während China aufgrund größerer Konsequenz ein durchaus plausibles Geschäftsmodell aufweist, ist dies für Russland nicht zu erkennen. In beiden Fällen aber sind die Governance-Probleme evident; in Russland besonders durch Korruption und politische Unberechenbarkeit, in China für die Frage, wie 1,4 Milliarden Menschen im Miteinander von Provinzen und Zentralregierung wirksam und schließlich partizi-pativ regiert werden können.
So bleibt von den Brics-Staaten derzeit als Antrieb für die Weltwirtschaft nur China übrig, was die Abhängigkeiten der Investoren dort erhöht. Das sollte nicht vom Geschäft abhalten, aber strategisch zu einem stärkeren Risiko-Mix anregen. Russland erweist sich strukturell als größeres Risiko, zumal wenn man das regionale Umfeld beleuchtet: Die vielgestaltigen, aber unterschiedlich ausgeprägten Konflikte im Irak (militärische Eskalation in lernender Demokratie), in Iran (innere Spannungen in autoritärem Regime), aber auch in der Türkei (Überdehnung der Verfassung und kulturkampf-ähnliche Auseinandersetzung) erinnern daran, dass eine größere Region politisch um Stabilität ringt und ökonomisch ihr Potenzial vergeudet.
Das Hasardspiel Putins gewinnt zwar auch in diesem Kontext keine Logik, wohl aber seine größere Bedeutung. Die Risiko-Weltkarte hat sich verändert.

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