26.09.2014 14:29 Uhr in Kultur & Kunst von VolkswagenStiftung

Der Wunsch nach Normalität

Kurzfassung: Der Wunsch nach NormalitätAls Freigeist-Fellow durchforstet Dr. Benjamin Lahusen Gerichtsakten aus der Zeit zwischen 1944 und 1952 und untersucht, wie stark der Wunsch der Gesellschaft nach Normalità ...
[VolkswagenStiftung - 26.09.2014] Der Wunsch nach Normalität

Als Freigeist-Fellow durchforstet Dr. Benjamin Lahusen Gerichtsakten aus der Zeit zwischen 1944 und 1952 und untersucht, wie stark der Wunsch der Gesellschaft nach Normalität sich auch in der juristischen Verwaltung widerspiegelt.
Der Zweite Weltkrieg zeigt sein grausamstes Gesicht, Großeltern erzählen später von angstvollen Nächten in Kellern auf der Suche nach Schutz vor den Bomben - und gleichzeitig zeichnen juristische Akten ein anderes Bild: Wenn etwa vor Gericht um eine abgeholzte Hecke gezankt oder Mietern aus nichtigen Gründen die Wohnung gekündigt wird.
Doch wie passen diese Bilder zusammen? Irritiert von den Gegensätzen durchforstet Dr. Benjamin Lahusen von der Universität Rostock Gerichtsakten aus der Zeit zwischen 1944 und 1952 und untersucht, wie stark der Wunsch der Gesellschaft nach Normalität sich auch in der juristischen Verwaltung widerspiegelt. Sein Projekt:"Administration of Normality. Law and Society 1944-1952".
Für unseren Fototermin hatten wir Sie gebeten, einen Gegenstand mitzubringen, der Ihre Arbeit charakterisiert. Sie haben sich für ein Pegel zum Messen des Wasserstandes entschieden. Was veranschaulicht dieses Symbol?
Geisteswissenschaftliche Arbeit ist immer schwer zu illustrieren. Ich habe mich dafür bei Thomas Mann bedient, der das Vorspiel zu "Josef und seine Brüder" mit dem Satz beginnt: "Tief ist der Brunnen der Vergangenheit." Dieses Bild hat mir gut gefallen: Der Historiker klettert in den Brunnen der Vergangenheit, nimmt ein Pegel und misst, wieviel Wasser vorhanden ist, ob noch mehr kommt oder ob die Quelle versiegt. In meiner Arbeit befasse ich mich mit vielen banalen Vorgängen aus dem Alltag, die normalerweise unbeachtet bleiben. Ich messe sozusagen nach, wieviel Schlick sich am Boden des Brunnens abgesetzt hat, und diesen Bodensatz beschreibe ich dann.
Wie sieht der Bodensatz aus, den Sie untersuchen?
Ich untersuche am Beispiel von juristischen Akten aus der NS- und der Nachkriegszeit, wie dort versucht wurde, die Normalität des Alltags aufrecht zu erhalten. Vorausgegangen war meine Verwunderung darüber, wie heil die Welt aussieht, die mir aus den Akten von damals entgegenlacht. Draußen ist Krieg, aber die Leute streiten sich darin geduldig und höchst zivilisiert darüber, wer wie lange warmes Wasser in der Küche beziehen darf. Mich interessiert, warum Menschen unter allen Umständen versuchen, eine Normalität aufrechtzuerhalten, die außerhalb des Rechts schon lange nicht mehr existiert.
Ist der Wunsch nach Normalität eine Art menschlicher Trieb?
Ja, bestimmt. Offenbar suchen Menschen sich gerade bei Großangriffen aus der Weltgeschichte kleine Zufluchtsorte im Alltag. Vom Recht mit seinem unbeirrbaren Formalismus scheint da eine gewisse Beruhigung auszugehen.
Sie sprachen an, dass Sie verwundert über die heile Welt ausden Akten gewesen seien. Gibt es Beispiele dafür, wo der Wunsch nach Normalität Sie besonders überraschte?
Viele Fälle sind irritierend. In einem Fall wurde etwa die Wiederherstellung einer Hecke eingeklagt, die der Beklagte eigenmächtig abgeholzt hatte mit der Begründung, sie sei nicht ordentlich geschnitten worden. Der Kläger wehrte sich dagegen, weil er im Krieg keinen Gärtner bekommen könne und nunmehr sein schönes Villengrundstück verschandelt sei. Das Ganze spielt im März 1945. So etwas verblüfft mich.
Aber noch eigenartiger wird es, wenn sich solche Fälle über Jahre hinziehen. Ein Vermieter verklagt im Herbst 1944 eine Mieterin, die mit ihren drei augenscheinlich ziemlich ungezogenen Kindern in seinem Mietshaus wohnt. Die Kinder seien zu laut, sie würden die Hausordnung missachten, es gäbe Ungeziefer in der Wohnung, der Abort würde nicht gereinigt usw. Also soll ihnen jetzt gekündigt werden. Darüber hört das Gericht im Dezember 1944 fünf Zeugen, die sich aber alle widersprechen. Deshalb bleibt der Fall erstmal liegen.
Im Februar 1949 erkundigt sich das Gericht beim Kläger, ob er eigentlich noch Interesse an dem Verfahren hat. Und ob! Der Kläger antwortet empört, er sei gerade aus mehrjähriger Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt und müsse feststellen, dass sich die Zustände zwischenzeitlich noch weiter verschlimmert hätten: die Hausordnung wird noch immer nicht beachtet, aber zusätzlich empfängt die Frau jetzt regelmäßig Herrenbesuch. Er bittet deshalb endlich um Entscheidung und fügt mit Nachdruck hinzu: "Dieser Kampf dauert nun schon zehn Jahre". Diese Formulierung hat mich sehr beeindruckt. Mit "Kampf" ist nicht der Krieg oder die Gefangenschaft gemeint, sondern die individuelle Leidensgeschichte im eigenen Haus. Übrigens verliert der Vermieter diesen Kampf später.
Was ist an diesen Fällen für Sie so spannend?
Alle Fälle, die ich untersuche, laufen den Erzählungen über diese Zeit diametral zuwider. Dass solche Fälle überhaupt existierten, hat mich verwundert, weil ich davon ausgegangen war, dass es in den letzten Kriegsmonaten weder Interesse noch Ressourcen für solche Banalitäten gab. Jeder kennt die Bilder der zerstörten Städte und die Geschichten aus dem Bombenkeller. Dazu passt es einfach nicht, wenn sich hinter diesem Ausnahmezustand ein Netz von alltäglichen juristischen Handlungen entfaltet. Für mich sind die öffentliche Erinnerung und die konkreten Ereignisse, die ich anhand der Quellen untersuche, schwer miteinander zu vereinbaren. Man muss die Geschichte deshalb nicht neu schreiben, aber man sollte sich vielleicht vergegenwärtigen, dass es in einer komplexen Gesellschaft immer auch solche Gegen-Geschichten gibt.
Sie reizen also die Gegen-Geschichten, die etwas über die Gesellschaft aussagen?
Ja, mich interessiert, wie die große Zäsur des Jahres 1945 juristisch verarbeitet, portioniert oder auch negiert wird, und wie sich das Individuum eine eigenständige Normalität in der Geschichte bewahrt und aktiv verteidigt. Der höchstpersönliche Lebensweg ist fast immer wichtiger ist als die große Erzählung, die sich drumherum ereignet. Von Koselleck gibt es das griffige Wort von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Auch wenn er das anders gemeint hat, verwende ich seine Formulierung gern: Ich glaube, dass das Individuum nicht willens und wahrscheinlich auch gar nicht in der Lage ist, das eigene Erleben mit der Weltgeschichte zu synchronisieren. Es bleibt immer ein Bruch. Und das Recht ist ein Mechanismus, diesen Bruch abzuarbeiten.
Sie untersuchen die "Verwaltung der Normalität" einerseits als Historiker, andererseits sind Sie ausgebildeter Jurist. Wie greifen diese beiden Disziplinen ineinander?
Ja, das stimmt, in meiner Arbeit kommen Jurisprudenz und Geschichte zusammen. Das ist natürlich nichts Neues, aber ich gehe etwas anders vor, als es der rechtshistorischen Tradition entspricht. Ich nehme dezidiert juristische Texte, verwende sie aber zu dezidiert nicht-juristischen Zwecken. Dementsprechend schaue ich nicht, ob ein Kaufvertrag im Jahr 1945 anders behandelt wurde als 2014. Mich interessiert stattdessen, was ein juristischer Fall über die Gesellschaft aussagt, in der er auftaucht.
Wie sieht diese Herangehensweise praktisch aus?
Am Anfang steht die Lektüre von konkreten Fallakten. Das Spektrum reicht vom Zivil- über das allgemeine bis hin zum politischen Strafrecht. Wenn es geht, ziehe ich nur unbereinigte Akten heran, die den gesamten Verfahrensgang abbilden. Das beginnt mit der Klageschrift oder den ersten Ermittlungen und geht bis zum Urteil und Berichten über die Vollstreckung. Schon daraus lässt sich ungeheuer viel entnehmen, weil die Leute vor Gericht oft einen starken Mitteilungsdrang haben. Man schildert eben alles, was einen selbst möglichst gut und den anderen möglichst schlecht aussehen lässt, und die Gerichte hören sich diese Ausführungen mit erstaunlichem Langmut an. Egal wie absurd eine Behauptung auch sein mag, es wird eigentlich immer ein Zeuge dazu befragt. Und wenn alles nichts hilft, gibt es im Strafrecht abschließend regelmäßig ein Gnadengesuch an Hitler. Aus alledem ergibt sich zumeist schon ein ziemlich verdichtetes ereignisgeschichtliches Substrat.
Sofern solche Bestände verdichtet überliefert sind, reichere ich sie um weitere Quellen an. Justizintern sind das etwa die Personalakten der beteiligten Richter oder die Verwaltungsakten der Gerichte. Damit es nicht zu technisch bleibt, konsultiere ich ergänzend auch ganz anderes Material, wie es etwa Kempowski in seinem Echolot zusammengetragen hat, also Tagebücher, Briefe oder autobiografische Erinnerungen.
Wo finden Sie Ihre Quellen?
Leider bin ich in dieser Hinsicht gezwungen, einer Mischung aus System und Zufall zu folgen. Die Aktenlage hängt davon ab, inwiefern die Quellen an unterschiedlichen Standorten überhaupt erhalten geblieben sind; manches wurde rechtzeitig ausgelagert oder war vom Krieg gar nicht betroffen. Aber auch dann ist die Überlieferung oft schlecht: Den alltäglichen Fällen, für die ich mich besonders interessiere, sieht man die Archivwürdigkeit nicht unbedingt an. Viel Material wurde deshalb zwischenzeitlich vernichtet. Ich habe nur eine Chance, wenn die Akten den Archiven überhaupt angeboten wurden, und wenn die Archive nicht abgelehnt haben.
Ist der Aktenbestand die große Unbekannte in Ihrem Vorhaben?
Das kann man so sagen. Die Welt, in der ich mich bewege, ist eine weithin analoge. Von digitalisierten Findmitteln oder gar digitalisierten Akten kann ich nur träumen. Schon die Existenz eines Bestandes ist in der Regel nur durch einen Besuch im Archiv festzustellen, von Art und Umfang der Überlieferung ganz zu schweigen. Wie lange die eigentliche Recherche dauert, weiß ich deshalb erst, wenn ich vor Ort bin.
Die Planung ist dadurch schon für die deutschen Archive relativ aufwendig. Aber viele einschlägige Akten befinden sich in ausländischen Archiven. Ehemals deutsche Gerichtsorte liegen heute in Polen, Russland, Litauen, Tschechien, Belgien oder Frankreich. Sowohl sprachlich als auch handwerklich ist der Zugang nicht überall ganz leicht. Es geht mir deshalb auch nicht darum, alle potentiellen Standorte restlos abzugrasen, sondern eine Art Querschnitt zu erstellen, also möglichst die verschiedenen Besatzungszonen zu berücksichtigen oder Unterschiede zwischen Stadt und Land herauszuarbeiten. Was dabei herauskommt, lässt sich jetzt noch nicht sagen.
Inwiefern zeichnet sich vielleicht ein Aktualitätsbezug Ihrer Fragestellung ab?
Ach, ich wäre da immer vorsichtig. In Syrien versucht man gerade, die Grundbücher in Sicherheit zu bringen. So etwas finde ich auch in meinen Akten immer wieder, aber trotzdem bleiben solche Phänomene doch eigentlich unvergleichbar.
Ein Bezug zur Gegenwart ergibt sich, wenn überhaupt, dann jenseits konkreter Probleme. Mir kommt es so vor, als könnte man aus diesen Quellen etwas über das Wesen der Moderne an sich lernen. Die sture Aktenförmigkeit, mit der die Menschen sich selbst im Angesicht der Apokalypse der Rechtswelt anvertrauen und geflissentlich die passenden Formulare ausfüllen, scheint mir relativ viel über die Organisation und das System einer modernen, westlichen Massengesellschaft auszusagen.
Inwiefern erleichtert Ihnen das Fellowship nun Ihre Forschung?
Ich habe mir einiges vorgenommen. Und da es nur schrittweise vorangehen kann, brauche ich vor allem einen verlässlichen zeitlichen Rahmen. Deshalb ist es für mich besonders wichtig, dass ich - neben den Reisekosten und Personal- und Sachmitteln - nun eine langfristige Perspektive erhalten habe, um mich dem Thema zu widmen. Der Brunnen der Vergangenheit braucht eben seine Zeit.
Lieber Herr Lahusen, wir danken Ihnen, dass Sie sich die Zeit für das Interview genommen haben, und wünschen Ihnen viel Erfolg bei der weiteren Spurensuche!

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