Kroatien: Eingesperrt und vernachlässigt

Kurzfassung: Kroatien: Eingesperrt und vernachlässigt Kaum Fortschritte bei der Integration von Menschen mit Behinderung Mehr als 8.200 Menschen mit geistigen und psychosozialen Behinderungen in Kroatien leben na ...
[Human Rights Watch Verein zur Wahrung der Menschenrechte e.V. - 07.10.2014] Kroatien: Eingesperrt und vernachlässigt

Kaum Fortschritte bei der Integration von Menschen mit Behinderung
Mehr als 8.200 Menschen mit geistigen und psychosozialen Behinderungen in Kroatien leben nach wie vor isoliert in Einrichtungen und psychiatrischen Kliniken, wo sie nur wenig Kontrolle über Entscheidungen haben, die ihr Leben betreffen, so Human Rights Watch. In dieser Woche werden die Vereinten Nationen Kroatiens Umsetzung des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen prüfen.
Zwar hat die kroatische Regierung einige Fortschritte beim Schutz der Rechte von Menschen mit Behinderungen gemacht, jedoch werden Menschen nur langsam und schleppend aus abgeschirmten Einrichtungen gebracht und in lokalen Wohnprojekten betreut. Menschen mit bestimmten Formen von Behinderung dürfen immer noch nicht über ihr eigenes Leben entscheiden. Der Regierungsplan zur Deinstitutionalisierung sollte alle staatlichen und privaten Einrichtungen einschließen, in denen Menschen mit Behinderungen leben. Die Regierung soll das Gesetz zur Rechtsfähigkeit prüfen, so dass alle Menschen mit Behinderungen die Möglichkeit haben und auch dazu ermutigt werden, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen.
"Menschen mit Behinderungen waren ihr ganzes Leben lang eingesperrt. Ihnen blieben so viele Dinge versagt, die für uns ganz selbstverständlich sind, wie beispielsweise zur Schule zu gehen und zu arbeiten oder selbst zu entscheiden, wann man morgens aufsteht", so Emina Cerimovic, Koenig-Fellow von Human Rights Watch. "Die kroatische Regierung muss mehr tun, um lokale Unterbringungs- und Pflegemöglichkeiten auszubauen und diese Menschen zu unterstützen, so dass sie so leben können, wie sie es sich wünschen."
Zwischen April und August 2014 führte Human Rights Watch Interviews mit 87 Personen in drei Regionen Kroatiens, darunter mit Menschen mit geistigen und psychosozialen Behinderungen und deren Familien, Angestellten in Einrichtungen und Sprechern von Nichtregierungsorganisationen, darunter Organisationen für Menschen mit Behinderungen. Ebenso sprach Human Rights Watch mit Regierungsbeamten sowie mit der Ombudsfrau für Menschen mit Behinderungen. Human Rights Watch konnte dokumentieren, dass Menschen in zentralen Einrichtungen verschiedenen Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt sind: sie leben isoliert von der Gesellschaft, werden verbal angegriffen, sind Opfer von Zwangsbehandlung, haben keine Privatsphäre und können sich nicht frei bewegen.
In einem heute von Human Rights Watch veröffentlichten Video sprechen Menschen mit psychosozialen Behinderungen über die Vorteile eines in die Gesellschaft integrierten Lebens, nachdem sie davor manchmal ihr ganzes Leben in isolierten Einrichtungen verbracht hatten.
"Ich habe meine Würde wieder. Ich fühle mich wieder wie ein Mensch", so Jelica, 58, die 17 Jahre in einer Einrichtung verbracht hat, bevor sie 2012 in ein lokales Wohnprojekt zog. "In dem Heim…fühlte ich mich wie im Gefängnis, als würde man mich irgendwie bestrafen… Aber jetzt habe ich meine Menschenwürde wieder. Denn jetzt treffe ich wieder meine eigenen Entscheidungen."
Elf der 46 staatlichen Einrichtungen haben mit der Deinstitutionalisierung begonnen, und seit Juli 2014 sind 458 Menschen mit geistigen Behinderungen und 96 Menschen mit psychosozialen Behinderungen in lokalen Wohnprojekten untergebracht.
Dennoch ist mehr als 8.200 Menschen mit geistigen und psychosozialen Behinderungen, die derzeit in Kroatien in allen möglichen Formen von Einrichtungen leben, das Recht auf ein in die Gesellschaft integriertes Leben weiterhin verwehrt.
Der Plan der kroatischen Regierung zur Deinstitutionalisierung und Reformierung von Fürsorgeeinrichtungen ("Master Plan"), der 2011 verabschiedet wurde, schließt mehr als 1.800 Menschen mit geistigen und psychosozialen Behinderungen aus, die derzeit in den 24 privat betriebenen, jedoch staatlich finanzierten Einrichtungen leben. Auch klammert der Master Plan die sogenannten Familienheime und Pflegefamilien aus. Familienheime werden von einzelnen Privatpersonen betrieben. Dort werden bis zu 20 Menschen mit geistigen oder psychosozialen Behinderungen untergebracht. Erwachsene mit Behinderungen werden ohne ihre Zustimmung und mit nur begrenztem Kontakt nach außen in Pflegefamilien untergebracht.
Die kroatische Regierung betrachtet diese Kategorien als nicht-institutionelle Unterbringungsformen. Die Recherchen von Human Rights Watch zeigten jedoch, dass es sich bei den Familienheimen tatsächlich um kleine Institutionen handelt und dass Pflegeheime, in denen Menschen ohne ihre Einwilligung untergebracht werden, auch eine Form von Einrichtung darstellen, da die Betroffen nur wenig Interaktion mit der Außenwelt haben.
Menschen mit psychosozialen Behinderungen, die gegen ihren Willen langfristig in einer psychiatrischen Klinik untergebracht werden, fallen ebenfalls nicht unter den Master Plan.
Ivan ist Ende Zwanzig und hat eine psychosoziale Behinderung. Seit 16 Jahren lebt er in einer psychiatrischen Klinik. "Ich finde es demütigend und traurig, dort zu sein", sagte er Human Rights Watch. "Ich möchte so schnell wie möglich raus."
Etwa 18.000 Menschen mit geistigen und psychosozialen Behinderungen in Kroatien stehen unter der Vormundschaft des Staates. Sie sind weder rechtsfähig noch haben sie die Möglichkeit, Entscheidungen über grundlegende Rechte zu treffen, so etwa das Recht zu heiraten und eine Familie zu gründen, einen Arbeitsvertrag zu unterzeichnen oder Eigentum zu besitzen. Die große Mehrheit der Betroffenen lebt unter vollständiger Vormundschaft, in der der jeweilige Vormund, der häufig vom Staat benannt wird, sämtliche Entscheidungen trifft.
2008 hat Kroatien das Abkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen ratifiziert. Dieses Menschenrechtsabkommen fordert Regierungen dazu auf, von der Politik der Institutionalisierung und Vormundschaft Abstand zu nehmen und stattdessen Möglichkeiten für Menschen mit Behinderungen zu schaffen, besser in die Gesellschaft intergiert zu leben und mit Unterstützung, falls nötig, Entscheidungen über ihr eigenes Leben zu treffen.
"Die meisten von uns genießen die Freiheit zu leben, wo und wie sie möchten, ohne daran zu denken, dass die Regierung ihnen diese Freiheit nehmen könnte", so Cerimovic. "Kroatien, das derzeit jüngste EU-Mitglied, muss sich von diesen bevormundenden Haltungen und Praktiken verabschieden, die auf der Annahme basieren, Menschen mit Behinderungen könnten keine eigenen Entscheidungen treffen. Kroatien soll Menschen mit Behinderungen stärken und unterstützen."
Die kroatische Regierung soll sicherstellen, dass alle Menschen mit Behinderungen, die ohne ihre Einwilligung in einer staatlichen oder privaten Einrichtung, langfristig in einer psychiatrischen Klinik, in einem Familienheim oder in einer Pflegefamilie untergebracht sind, Teil des Prozesses der Deinstitutionalisierung werden, so Human Rights Watch. Die Regierung soll zudem Förderprogramme finanziell unterstützen, die Unterbringungsmöglichkeiten und selbst gewählte Unterstützung für ein unabhängigeres Leben bieten. Diese Förderprogramme sollen allen Menschen mit Behinderungen zugänglich sein, egal wo eine Person untergebracht ist.
Die Regierung Kroatiens soll das Vormundschaftssystem durch eine Politik der Unterstützung und Entscheidungshilfe ersetzen. Diese neue Politik soll die Autonomie, den Willen und die Präferenzen von Menschen mit Behinderungen respektieren, so Human Rights Watch.
Auch soll die kroatische Regierung Organisationen für Menschen mit Behinderungen finanziell unterstützen ebenso wie andere Gruppen, die Leistungen und Unterstützung anbieten.
Human Rights Watch hat dokumentiert, dass sich immer mehr Menschen, die in Programmen für Menschen mit Behinderungen arbeiten, der Probleme der Institutionalisierung bewusst werden. Ladislav Lamza, Direktor des Heims für psychisch kranke Erwachsene in Osijek, einer Sozialeinrichtung für Erwachsene mit psychosozialen Behinderungen, sagte Human Rights Watch: "Wir verstehen jetzt, dass solche Einrichtungen nicht der richtige Ort für einen langfristigen Aufenthalt sind. Nur auf den ersten Blick wird den Betroffenen all das gegeben, was sie brauchen. In Wahrheit jedoch nimmt es den Menschen das Wichtigste - einen Sinn im Leben."
Recherche
2010 hat Human Rights Watch zum ersten Mal in dem Bericht "Once You Enter, You Never Leave: Deinstitutionalization of Persons with Intellectual or Mental Disabilities in Croatia" die Bedingungen dokumentiert, unter denen Menschen mit geistigen und psychosozialen Behinderungen in Kroatien in Einrichtungen leben. Human Rights Watch erfuhr von mehr als 9.000 Menschen mit geistigen oder psychosozialen Behinderungen, die in Einrichtungen leben und keinen Zugang zu individuellen Wohn- und Hilfsprogrammen haben. Die erneute Recherche 2014 bestand neben Interviews auch in Besuchen in vier Fürsorgeheimen, einer psychiatrischen Klinik und sieben lokalen Wohnprojekten in drei Regionen Kroatiens: Slavonija, Zentralkroatien und Kvarner. Human Rights Watch sprach auch mit Angestellten und ehemaligen Bewohnern von zwei Fürsorgeheimen für Menschen mit psychosozialen Behinderungen sowie einer psychiatrischen Klinik. Eine privat betriebene, jedoch staatlich finanzierte Einrichtung, das Rehabilitationszentrum Nada in Karlovac, erteilte keine Besuchserlaubnis. Die meisten der Menschen, mit denen Interviews geführt wurden, werden hier nicht mit ihrem richtigen Namen erwähnt, um ihre Privatsphäre zu schützen.
Im August 2014 hat Human Rights Watch ein Memorandum beim UN-Komitee für die Rechte von Menschen mit Behinderungen eingereicht, bevor dieses eine Liste von Problemen in Kroatien zusammenstellte.
Das Leben nach der Einrichtung
Josip, 34, hat eine schwach ausgeprägte geistige Behinderung und lebte in einer Einrichtung, seit er ein Baby war. Er kennt seine Familie nicht und hatte nie ein Wochenende oder einen Urlaub außerhalb der Einrichtung verbracht. Er ist nie zur Schule gegangen, hat noch nie einen Job gehabt oder sein eigenes Essen gekocht. Er hat nie selbst entschieden, was er anzieht oder isst, und hat bislang sein Schlafzimmer mit bis zu zehn anderen geteilt.
Im September ist Josip in eine Wohnung gezogen. Nun ist er zum ersten Mal tagtäglich von Menschen außerhalb der Einrichtung umgeben, auch von Menschen ohne Behinderung. Zum ersten Mal kann er sich frei bewegen.
"In Zorkovac [einer Zweigstelle der Einrichtung], können wir nur bis zu einem Schild laufen, dann müssen wir umkehren und zurücklaufen", sagte er uns, als er noch in der Einrichtung lebte. "In Karlovac [der Stadt, in die er nun gezogen ist] kann ich mich frei bewegen, so viel ich will."
Dijana Borovic, Direktorin des Rehabilitationszentrums in Ozalj, in dem Josip lebte, sagte Human Rights Watch: "Es war wie ein Gefängnis. Wir machen sie abhängig von uns. Wir tun alles für sie. Selbst wenn sie etwas alleine machen, so geschieht das nur unter unserer Aufsicht."
Im September 2014 wurde Zorkovac geschlossen und mit Josip zogen 57 andere Personen aus und leben nun in Wohnungen.
Menschen mit Behinderungen, die in Einrichtungen leben müssen, bleibt nicht nur verwehrt, selbst zu entscheiden, wo und wie sie leben, sie haben auch nur begrenzten Zugang zu Bildung, Arbeit und gesundheitlicher Versorgung. So waren beispielsweise die Zähne der Menschen, die Human Rights Watch in Einrichtungen besuchte, in einem schlechten Zustand. Angestellte sagten, die Bewohner der Einrichtung hätten nur unzureichenden oder gar keinen Zugang zu zahnärztlicher Versorgung. Jovan, 54, sagte dass er in den acht Jahren, die er in der Džakovicka Breznica Einrichtung verbracht hat, nie eine zahnärztliche Kontrolle, eine Füllung oder eine Zahnreinigung bekommen habe.
Die meisten Menschen, mit denen Human Rights Watch Interviews führte, berichteten, sie hätten keine Privatsphäre und müssten einer strengen, immer gleichen, täglichen Routine folgen. Ivan, Ende Zwanzig mit einer psychosozialen Behinderung, sagte, die Bewohner der Einrichtung müssten jeden Morgen vor acht Uhr aufstehen, um frühstücken zu können: "Frühstück gibt es von 8 Uhr bis 8:15 Uhr. Wenn man das verpasst hat, muss man bis zur nächsten geplanten Mahlzeit [um 12 Uhr] warten.
Einige Menschen wurden gezwungen zu arbeiten. Ognjen, 51, der an einer paranoiden Schizophrenie leidet, hat insgesamt 12 Jahre in verschiedenen Einrichtungen verbracht. "Wir wurden gezwungen zu arbeiten", sagte er, "Wir mussten den ganzen Tag draußen auf dem Feld verbringen. Morgens schlossen sie das Heim ab und öffneten es erst wieder spät am Abend. Mitten im Sommer, wenn die Sonne runterbrennt, muss man auf dem Feld arbeiten."
Die meisten waren durchaus zuversichtlich, dass sie in der Gemeinschaft leben könnten, selbst wenn sie hierfür Unterstützung bräuchten. Josip braucht Hilfe beim Kochen und Wäsche waschen. Iva, 43, die eine geistige Behinderung hat, sagte:
Wir kochen, waschen, wir machen alles alleine. Wir haben Unterstützung. Ich lebe lieber in der Wohnung als in der Einrichtung. Nein, nein, nein. Ich will nie wieder zurück in die Einrichtung. Ich kann nicht zurück, weil das hier jetzt mein Zuhause ist.
Erwachsene, die in Pflegeheimen lebten, sagten Human Rights Watch, dass das Leben in einer eigenen Wohnung sich sehr von dem in Pflegeheimen unterscheide. Marina, 42, die an paranoider Schizophrenie leidet, lebte über mehrere Jahre in fünf verschiedenen Pflegeheimen. "In einem Pflegeheim zu leben war nicht einfach", sagte sie. "Man musste um 7 Uhr morgens aufstehen und arbeiten. Man wurde gezwungen zu arbeiten, meistens auf dem Feld. Ich pflanzte und erntete Kartoffeln von früh morgens bis spät abends."
Marina, die jetzt in einem Gemeinschaftsprojekt der unabhängigen Gruppe Susret lebt, sagte über ihr neues Leben: "Es ist ein Vorteil. Man kann Essen kaufen und es alleine essen. Man kann spazieren gehen."
Hürden beim Übergang
Human Rights Watch dokumentierte, dass Menschen mit geistigen und psychosozialen Behinderungen, die in Einrichtungen leben und unter den Plan zur Deinstitutionalisierung fallen, auf verschiedene Hürden treffen, wenn sie unabhängiger leben wollen. So muss erst das Personal der Einrichtung überprüfen, ob die betroffene Person dazu bereit ist. Das ist Bedingung für einen Auszug.
Menschen mit Behinderungen haben das Recht zu entscheiden, wo sie leben, und sollten keinem "Eignungstest" unterzogen werden. Die Bedürfnisse und Stärken von Personen sollten nur beurteilt werden, um die Art der Unterstützung und Hilfe für die Personen zu bestimmen.
Vormunde behalten weiterhin das Recht zu entscheiden, wo und mit wem die Personen, denen die Rechtsfähigkeit entzogen wurde, leben dürfen. Laut Sozialrecht dürfen Menschen mit Behinderungen, die nicht mehr rechtsfähig sind, ohne ihre Zustimmung in Einrichtungen wie Fürsorgeheimen, Pflegeheimen und auch Pflegefamilien untergebracht werden. Laut Gesetz ist die Unterbringung in einer Einrichtung eine Sozialleistung und ein "Recht".
Die Einwilligung des Vormunds für eine Unterbringung ersetzt die Zustimmung der betroffenen Person selbst. Das Gesetz sieht keine Prüfung oder Anfechtung dieser Entscheidung vor. Die Leiter von vier verschiedenen Einrichtungen sagten Human Rights Watch, dass die große Mehrheit der Menschen mit Behinderungen in jeder dieser Einrichtung ihrer Rechtsfähigkeit beraubt wurde.
Das Vormundschaftssystem schränkt zudem das Recht der Menschen mit Behinderungen ein, Einrichtungen zu verlassen. "Der Vormund hat das Recht, den Vorgang zu stoppen, auch wenn das nicht dem Wunsch der betroffenen Person entspricht", so Mladen Mužak, Leiter der Wohneinheit im Rehabilitationszentrum Zagreb. "Ohne die Einwilligung des Vormunds können wir gar nichts tun."
Im Juni 2014 verabschiedete das Parlament ein neues Familiengesetz, das die volle Vormundschaft abschafft, den Gerichten jedoch weiterhin erlaubt, Personen unter eine Teilvormundschaft zu stellen, und somit die Möglichkeit der betroffenen Person einschränkt, in einigen Bereichen eigene Entscheidungen zu treffen. Lokale Anwälte für Rechte von Menschen mit Behinderungen haben Bedenken geäußert, dass diese Regelung dazu führen könnte, dass ein Gericht festlegt, zu welchen Tätigkeiten eine Person nicht allein in der Lage ist und über die demnach ein Vormund entscheiden kann. Hierbei geht es insbesondere um Entscheidungen bezüglich der Gesundheitsversorgung, des Eigentums und des Wohnorts. Solche Entscheidungen, verbunden mit dem Mangel an regelmäßigen gerichtlichen Kontrollen und anderen Schutzmaßnahmen könnten zu einem vollständigen faktischen Verlust der Rechtsfähigkeit führen und setzt Menschen dem Risiko aus, gegen ihren Willen in Einrichtungen oder psychiatrischen Kliniken untergebracht zu werden.
Im Mai berichtete Vildana, 44, die eine geistige Behinderung hat und im Rehabilitationszentrum Zagreb lebt:
Zuerst hat meine Mutter [auch ihr Vormund] ja gesagt…jetzt sagte sie "nein"… Ich will hier nicht wohnen. Ich möchte in meiner eigenen Wohnung leben oder bei meiner Mutter. Meine Mutter erlaubt mir nicht, alleine zu leben."
Angestellte der Einrichtung zeigten sich enttäuscht, da sie der Meinung sind, Vildana könne durchaus ein unabhängiges Leben führen.
Der Leiter der Wohneinheit einer Einrichtung sagte Human Rights Watch: "Ständig gibt es Probleme mit Eltern, die sich in das Programm [zur Deinstitutionalisierung] einmischen."
Tanja, 30, die an paranoider Schizophrenie leidet, ist auf unbestimmte Zeit in der psychiatrischen Klinik von Lopaca untergebracht. "Ich wollte hier nach den ersten vier Jahren raus, aber ich kann nicht, da ich einen Vormund habe", sagte Tanja. "Ich sagte es meiner Schwester und meinem Arzt, aber mein Vormund darf bestimmen", fügte Tanja hinzu. "Ich kann alleine wohnen, wenn ich Unterstützung bekomme. Ich möchte frei wie ein Vogel sein!"
Tin, Anfang 30, hat eine psychosoziale Behinderung. Er lebt seit mehr als sieben Jahren in Lopaca. "Ich bin zu jung, um hier mein ganzes Leben zu verbringen."
Die Recherchen von Human Rights Watch haben gezeigt, dass es nur begrenzte lokale Wohnmöglichkeiten und Unterstützung für Menschen mit Behinderungen gibt, denen es erlaubt ist, eine Einrichtung zu verlassen. Viele Menschen mit geistigen und psychosozialen Behinderungen, die Human Rights Watch interviewt hat, sagten, sie hätten keine reelle Möglichkeit, über ihre Wohnsituation zu entscheiden und darüber, von wem sie Unterstützung bekommen, wenn sie die Einrichtung verlassen. Um Hilfe vom Staat für Wohnen und Hilfsdienste zu erhalten, leben sie normalerweise in Wohnungen, die von der jeweiligen Einrichtung organisiert wurden und von dieser auch überwacht werden. Die Menschen erhalten auch weiterhin Hilfe und Unterstützung von der Einrichtung. Wer lieber bei Freunden oder der Familie leben möchte, hat keinen Anspruch mehr auf staatlich finanzierte Unterstützung für das Wohnen und die Hilfsdienste.
Radmila Stojanovic, Vorsitzende der Vereinigung Susret, die Menschen mit psychosozialen Behinderungen Unterstützung und Wohnmöglichkeiten bietet, sagte: "Menschen mit psychosozialen Behinderungen bekommen nur Unterstützung vom Staat, wenn sie Teil eines Programms sind. Verlässt man das Programm, verliert man das Geld und die Unterstützung."
Neda Memiševic, Rechtsexperte bei der Vereinigung zur Integrationsförderung, einer unabhängigen Organisation, sagte:
Das Problem mit dem System in Kroatien ist, dass die Person selbst kein Einkommen oder Kontrolle über ihr Geld hat. Sie hat keinen Zugang zu finanzieller Unterstützung für eine Wohnung. Nur das System [Wohnungsdienstleister] hat diesen Zugang.
Kroatiens Programm für persönliche Unterstützung, das Menschen mit Behinderungen zuhause hilft, die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben zu erleichtern, und finanzielle Unterstützung bieten soll, ist nur für Menschen mit schweren körperlichen Behinderungen verfügbar.
Senada, die eine leichte geistige Behinderung hat, lebte in einem Gemeinschaftswohnprogramm der Vereinigung zur Integrationsförderung, das 2006 angelaufen war. In dieser Zeit erhielt Senada die Unterstützung, die sie brauchte. Nachdem sie jedoch dieses Programm verließ, um ein unabhängiges Leben zu führen, sagt sie:
Ich bekomme keinerlei Unterstützung, obwohl ich sie brauche. Ich bräuchte jemanden, der mir hilft, meinen Haushalt zu führen, da ich Probleme mit meinen Händen habe. Aber ich bekomme diese Unterstützung nicht und ich alleine kann sie mir nicht leisten. Um Unterstützung zu bekommen, muss man in ein Programm gehen.
Kein Zugang zu weiteren Rechten
Der physische Umzug von einer Einrichtung in eine Wohnung ist für Menschen mit Behinderungen enorm wichtig. Zugleich beinhaltet das Recht, besser in die Gesellschaft integriert zu leben, auch die Wahl und die Kontrolle über das eigene Leben und sollte den Genuss vieler anderer Rechte ebenfalls erleichtern. Laut des internationalen Abkommens sollte es Menschen mit geistigen und psychosozialen Behinderungen möglich sein, zur Schule zu gehen, zu arbeiten, Zugang zur Gesundheitsversorgung zu haben und Freizeitaktivitäten auf die gleiche Art wie andere durchführen zu können.
Die meisten Menschen, mit denen Human Rights Watch Interviews führte, sagten, einer ihrer größten, unerfüllten Wünsche sei es, eine Arbeit zu haben. Goran Karaš ist Vorsitzender einer lokalen Selbsthilfeorganisation, die mit Menschen arbeitet, die Einrichtungen verlassen haben. Er sagt:
Eine Arbeit zu haben ist ihnen sehr wichtig. Sie brauchen das Geld, aber auch die Unabhängigkeit, die eine Arbeit mit sich bringt. Sie fühlen sich wertvoll. Sie bieten immer ihre Hilfe an, sie möchten helfen, um zu beweisen, dass sie wertvoll sind. In den Einrichtungen, in denen sie gelebt haben, wurde alles für sie gemacht. Sie haben nie eine Chance bekommen.
Arbeit ist auch ein Weg aus der Langeweile und der Isolation. Luka, ein 46-jähriger Mann aus Osijek, der Teilzeit in einem Laden arbeitet, sagte: "Ich bin froh, dass ich arbeiten kann, dass ich mich mit Menschen umgeben kann. Wenn ich nach der Arbeit nach Hause gehe, fühle ich mich toll. Ich bin von Menschen umgeben und das ist ein wunderbares Gefühl."
Allerdings ist es Menschen mit geistigen oder psychosozialen Behinderungen, die die kroatische Rentenversicherungsanstalt aufgrund einer medizinischen Untersuchung für arbeitsunfähig erklärt hat, gesetzlich untersagt zu arbeiten.
Zudem schafft das kroatische Sozialsystem weitere Nachteile, die Menschen mit Behinderungen von einer Arbeit abhalten. So haben beispielsweise diejenigen, die Vollzeit arbeiten, keinen Anspruch auf eine Wohnung. Fehlende Schulbildung, Stigmatisierung und Diskriminierung machen es für Menschen mit Behinderungen sehr schwierig, eine Arbeit zu finden.
Auch der Zugang zum Gesundheitssystem stellt eine Herausforderung dar. Menschen mit geistigen oder psychosozialen Behinderungen, die eine Einrichtung verlassen haben, müssen in der Regel weiterhin ihre Arzttermine in der Einrichtung wahrnehmen. Ähnlich gestaltet sich die Situation für Menschen mit psychosozialen Behinderungen, die das Heim für psychisch kranke Erwachsene in Osijek verlassen haben.
Lamza, Leiter des Heims, sagte: "Die Allgemeinärzte verweisen Menschen mit psychosozialen Behinderungen, die das Heim verlassen haben, in der Regel an die psychiatrische Klinik in Popovac", die anderthalb Stunden entfernt ist.
In ihrem Bericht für 2014 an die Vereinten Nationen sagte die kroatische Ombudsfrau für Menschen mit Behinderungen, dass es nicht einmal einen minimalen Fortschritt bei der ambulanten Behandlung von Menschen mit psychosozialen Behinderungen gegeben habe. Auch habe es keine Verbesserung bei der Qualität der Gesundheitsversorgung gegeben, die den Betroffenen zur Verfügung steht. Dies führe zu unnötigen Krankenhausaufenthalten.
Blick nach vorn: Vielversprechende Entwicklungen in Kroatien
Trotz dieser Hürden fand Human Rights Watch diverse individuelle Wohnmöglichkeiten und auch Unterstützungsdienste, die von den Einrichtungen selbst oder von lokalen Nichtregierungsorganisationen organisiert werden.
So werden seit 2012 beispielsweise die Bewohner des Heims für psychisch kranke Erwachsene in Osijek aktiv in den Prozess der Deinstitutionalisierung eingebunden. Einige Bewohner leben seit bis zu 20 Jahren in dem Heim, das ein Programm mit dem Namen "Ich, genauso wie du" entwickelt hat, um die Hierarchie innerhalb der Institution abzuschaffen und die Zusammenarbeit von Menschen mit psychosozialen Behinderungen, die in Einrichtungen lebten, mit Dienstleistern und Menschen vor Ort selbst zu fördern.
Jede Person wird etwa sechs Monate lang auf das Leben außerhalb der Einrichtung vorbereitet. Die Angestellten helfen, Bedürfnisse, Stärken, Lebensziele und Pläne zu definieren, darunter wie, wo und mit wem sie leben möchten und welche Unterstützung sie benötigen. Diese individuelle Planung beinhaltet auch das Erlernen von Alltagstätigkeiten wie das Kochen, die Haushaltsführung, die Körperhygiene und sogar soziale Interaktion. Zu diesem Zweck hat das Heim eine "Übungswohnung" eingerichtet, wo die Bewohner lernen können, zu kochen, abzuwaschen und ihre Kleidung zu bügeln.
Wenn die Bewohner in eine Wohnung gezogen sind, erhalten sie vom Personal der Einrichtung regelmäßig Unterstützung auf der Grundlage ihrer individuellen Bedürfnisse. So erhalten sie Unterstützung bei finanziellen Angelegenheiten, bei der Nutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln und beim Zugang zu medizinscher Versorgung.
Bis Oktober 2014 hatten 33 Menschen mit psychosozialen Behinderungen die Einrichtung verlassen, um in verschiedenen Wohnungen in Osijek zu leben. Alle Betroffenen, mit denen Human Rights Watch sprach, berichteten, dass sie eine angemessene Unterkunft hätten und sich in die Gemeinschaft integriert fühlten. Einige gehen einer Teilzeitbeschäftigung nach und haben Betreuer, die ihnen helfen und sie unterstützen. Weitere zehn der insgesamt 150 Menschen, die derzeit noch in der Einrichtung leben, sollen bis Ende 2014 in von der Regierung bereitgestellte Wohnungen ziehen. Weitere 70 sollen in Wohnungen ziehen, die von Open Society Foundations mitfinanziert werden.
In ähnlichen Programmen des Rehabilitationszentrums in Ozalj im Südwesten Kroatiens und des Rehabilitationszentrums Zagreb erhalten Bewohner mit geistigen Behinderungen Notizbücher, in denen sie ihre Bedürfnisse and Wünsche festhalten können. Gemeinsam mit persönlichen Betreuern können sie ihre Ziele und Gedanken darüber teilen, wer ihnen die nötige Unterstützung bieten könnte, um das zu erreichen, was ihnen wichtig ist. Das können Selbsthilfegruppen für Menschen mit Behinderungen sein, genauso wie Freunde und Nachbarn.
Amorevera, eine lokale Gruppe in Dugo Selo, in der Nähe von Zagreb, arbeitet mit der Selbsthilfevereinigung zusammen, um solch eine Unterstützung anzubieten. Ziel ist es, das Selbstvertrauen und die Talente von Menschen mit geistigen Behinderungen zu stärken, die ihr ganzes Leben in Einrichtungen verbracht haben, wo ihre Meinung nur selten zählte. Es finden wöchentliche Treffen mit Menschen mit geistigen Behinderungen statt, in denen sie dazu ermutigt werden, über ihre Rechte, ihre Beziehungen, Wünsche und andere Anliegen zu sprechen, die wichtig für sie sind. Persönliche Betreuer sind hierbei nicht anwesend, um den Menschen zu ermöglichen, frei zu sprechen und sich eine eigene Meinung zu bilden.
Goran Karaš, Vorsitzender von Amorevera, sagte Human Rights Watch:
Wir konnten sehen, wie sie zu ihren Betreuern blickten, wenn wir ihnen Fragen zu bestimmten Themen stellten. Sie erwarteten, dass ihre Betreuer für sie antworten würden. Man konnte spüren, wie unsicher sie waren. Also beschlossen wir, die Betreuer nicht mehr zu den Treffen einzuladen, und wir bemerkten, dass die Menschen dann offener wurden und sprachen. Wir ermutigen sie, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen.
Human Rights Watch fand heraus, dass Menschen mit geistigen Behinderungen, die Mitglieder von Selbsthilfeorganisationen sind, auch mehr über ihre Rechte wussten und entschlossener waren, selbst Entscheidungen über ihr Leben zu treffen. So hat beispielsweise Iva Treffen der Selbsthilfeorganisation besucht, bevor sie aus einer Einrichtung auszog. Als sie nach ihrem Wunsch gefragt wurde auszuziehen, antwortete sie:
Meine Mutter wollte nicht, dass ich gehe, aber sie ist glücklich, dass ich in die Wohnung gezogen bin. Ich habe ihr gesagt, sie soll unterschreiben. Ich sagte ihr, wenn du nicht unterschreibst, bin ich nicht mehr deine Tochter, ich schaue dich dann nicht mehr an. Dann hat sie unterschrieben. Ich wollte hier ausziehen, weil ich sehen wollte, wie andere Menschen leben… meine Wohnung ist toll. Ich könnte sterben vor Glück. Was soll ich tun? Es ist wunderbar, dass ich eine Wohnung und Mitbewohner habe. Ich kann auch andere Entscheidungen treffen. Ja, das kann ich.

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