01.12.2014 11:47 Uhr in Wirtschaft & Finanzen von Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung DIW Berlin
Wohin steuert unsere Alterssicherungspolitik?
Kurzfassung: Wohin steuert unsere Alterssicherungspolitik? Mit zwei zeitgleich erscheinenden Vierteljahrsheften zur Wirtschaftsforschung dokumentiert das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) ei ...
[Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung DIW Berlin - 01.12.2014] Wohin steuert unsere Alterssicherungspolitik?
Mit zwei zeitgleich erscheinenden Vierteljahrsheften zur Wirtschaftsforschung dokumentiert das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) einen Ausschnitt der aktuellen Diskussion um die komplexen Fragen der Alterssicherungspolitik. Heft 2/2014 setzt sich schwerpunktmäßig mit der gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) und Heft 3/2014 mit der privaten und betrieblichen Altersvorsorge auseinander. Die Beiträge aus Wissenschaft und Wirtschaft sowie Positionspapiere aus der Politik im Überblick:
In ihren Editorials argumentieren Kornelia Hagen und Heinz Rothgang, dass unser gesetzliches Rentensystem trotz aller Mängel nach wie vor einer Systemlogik unterliegt und der beliebte Vergleich mit einer Dauerbaustelle oder einem kenternden Schiff - bei aller berechtigten Kritik - sachlich verfehlt und schädlich sei. Sie beanstanden vor allem, dass die Politik die Wirkungen der Umgestaltung des Alterssicherungssystems zu einem "Drei-Säulen-Prinzip" nicht achtsam genug beobachtet. Angesichts des sinkenden Niveaus der gesetzlichen Rente und des offensichtlichen Fehlens einer Ausgleichsfunktion der zweiten und dritten Säule der Altersvorsorge fordern sie dazu auf, über die Ziele und die Ausrichtung des Systems der Alterssicherung wieder einen breiten gesellschaftlichen Konsens herzustellen.
Ingo Schäfer beschäftigt sich mit der von der Bundesregierung geplanten "solidarischen Lebensleistungsrente", in der er die Vollendung des Paradigmenwechsels hin zu einem fürsorgeorientierten Rentensystem sieht. Damit würde nur das Symptom - unzureichendes Alterseinkommen -, aber nicht die Ursachen - geringe Löhne und die Rentenreformen - in den Blick genommen werden. Er plädiert dafür, die Beitragssätze für die GRV wieder an dem Leistungsziel der Sicherung des Lebensstandards und nicht mehr an der Höhe des Beitragssatzes auszurichten. Damit könnte letztlich die private und betriebliche Altersvorsorge entfallen.
Uwe Fachinger und Harald Künemund zeigen, dass Alterseinkünfte nach wie vor von den Leistungen aus der GRV dominiert werden. Die Einkünfte aus der betrieblichen und privaten Vorsorge seien unstet und böten bislang keinen verlässlichen Ausgleich zur Leistungsreduzierung in der GRV. Ihr Fazit lautet: Die Systemstrukturen und -anforderungen der drei Säulen sind völlig verschieden, eine Abstimmung zwischen den Säulen der Alterssicherung fehlt.
Volker Meinhardt vertritt die Meinung, das üblicherweise ausgewiesene Rentenniveau sei "geschönt". Würde man einen realitätsnahen Einkommensverlauf unterstellen und die Standardrente auf das letzte Erwerbseinkommen beziehen, so läge die Versorgung zwölf Prozentpunkte unter dem offiziell ausgewiesenen Rentenniveau. Er schlägt vor, das bisherige System der Altersvorsorge in eine Pflichtversicherung für alle Bürger ("Bürgerversicherung") umzuwandeln; diese sei armutsverhindernd und finanzierbar.
Carola Reimann fordert dazu auf, auch indirekt wirksame Alterssicherungspolitik - Arbeits-markt-, Gleichstellungs- und Familienpolitik - zu berücksichtigen, denn allein mit renten-rechtlichen Regelungen werden längere arbeitsmarkt- oder familienbedingte Ausfallzeiten, in denen keine ausreichende Altersvorsorge getätigt werden kann, immer weniger nachträglich zu "reparieren" sein. Ob die privat Vorsorgenden auch wirklich eine Alterssicherung auf dem angestrebten Niveau erzielen könnten, würde aber nicht zuletzt von der weiteren Entwicklung auf den Kapitalmärkten abhängen.
Christoph Butterwegge vertritt die Position, Altersarmut werde in Deutschland von den poli-tisch Verantwortlichen nicht als gravierend wahrgenommen, sie werde vielmehr verdrängt oder verharmlost. Dem Rentenpaket bescheinigt er, dass es zum ersten Mal seit 1972 wieder spürbare Leistungsverbesserungen in der GRV bringe, dass diese Verbesserungen aber weder allen Rentenbeziehenden und Versicherten noch vorrangig den bedürftigsten Älteren zugute kämen. Einer sich ausbreitenden Altersarmut wirke das Rentenpaket nicht entgegen, da es den beschlossenen Maßnahmen an Zielgenauigkeit fehlen würde.
Für Matthias W. Birkwald und Michael Popp ist das Abrücken vom Prinzip der Lebensstandardsicherung, die Aufkündigung des Generationenvertrags durch einen Generationenkonflikt und das Unterminieren der Umlagefinanzierung durch eine kapitalgedeckte Vorsorge "der größte Sündenfall der Nach-Blüm-Ära". An dem Rentenpaket der Großen Koalition kritisieren sie, es sei zu pauschal, in Teilen unsystematisch und falle hinter das Nötige einer Armutsbekämpfung zurück. Die Rente ab 63/65 halten sie für einen "Etikettenschwindel" mit harten Ausschlusskriterien, nur wenige würden davon profitieren. Auch die Verbesserungen bei der Erwerbsminderungsrente würden nicht ausreichen, um diese Rente wieder auf das Niveau zu Beginn des Jahrhunderts zu heben. Ihr rentenpolitischer Gegenentwurf zur Rentenpolitik der Großen Koalition umfasst die Rückkehr zu einem lebensstandardsichernden Rentenniveau auf der Grundlage gut entlohnter Arbeit. Sie skizzieren eine Bürgerversicherung, die eine einkommens- und vermögensgeprüfte Solidarische Mindestrente aus Steuermitteln garantieren soll.
Rudolf Martens reklamiert, dass in der sozial- und rentenpolitischen Diskussion in Deutschland Altersarmut nur anhand der Grundsicherung gemessen und diskutiert werde. Damit würde aber die heutige Altersarmut - gemessen an der gesamten Transferabhängigkeit - um die Hälfte unterschätzt werden. Auf der Grundlage eines regionalisierten Prognosemodells kommt er zudem zu dem Ergebnis, dass die Altersarmut im Jahr 2021 vor allem in Ballungsräumen und Stadtstaaten sowie in einzelnen Landkreisen in Ostdeutschland zunehmen werde. Er plädiert zur Vermeidung von Altersarmut für eine bedarfsorientierte Altersgrundsicherung, eine Anhebung der monatlichen Regelleistungen sowie für die Übernahme von Einmalleistungen und Stromkosten.
Christine Hagen und Ralf K. Himmelreicher legen eine empirische Analyse zur Erwerbsminderung in Deutschland vor. Ihr Fazit: Obwohl in Deutschland jeder fünfte Arbeitnehmer in die Erwerbsminderung gehen müsse, werde das Risiko einer Erwerbsminderung unterschätzt - von der Politik wie von den Versicherten. Ein alarmierender Befund sei der frühe und steigende Zugang in die Erwerbsminderungsrente aufgrund psychischer Erkrankungen und der hohe Anteil von erwerbsgeminderten Rentenbeziehern mit Grundsicherung. Hinzu komme, dass nur in den wenigsten Fällen die geringen Erwerbsminderungsrenten durch eine private Invaliditätsvorsorge kompensiert würden. Viele Betroffene verfügen aus finanziellen Gründen oder wegen Vorerkrankungen nicht über eine private Absicherung. Dass das Rentenpaket Verbesserungen für Erwerbsgeminderte vorsieht, bewerten die Autorin und der Autor positiv, aus sozialpolitischer Sicht seien diese Verbesserungen aber nicht hinreichend. Sie sprechen sich auch für flexible Instrumente des Übergangs in eine Erwerbsminderungs- wie auch eine Altersrente aus, die mehr auf Anreize denn auf Abschläge setzen.
Katja Möhring erweitert den Blick auf Gender-Aspekte im Alterseinkommen ("Mother Pension Gap"). Sie untersucht dafür die Wirkungen institutioneller Regelungen zur Berücksichtigung von Kindererziehung auf das Alterseinkommen von Müttern in 13 europäischen Ländern. Danach sei die tatsächliche Wirkung von Mütterrenten auf das Alterseinkommen von Frauen gering und daher (mit der Ausnahme in der Schweiz) nicht geeignet, die durch Kinderbetreuung entstehenden Einkommenslücken im Alter zu kompensieren. Im Gegensatz zur Mütterrente verbessere eine Basisrente, die ein adäquates Renteneinkommen unabhängig von der Beschäftigungshistorie garantiert, die Einkommenssituation von Müttern im Alter signifikant. Möhring spricht sich für eine Reform der Erwerbszentrierung staatlicher Rentenleistungen aus. Reformiert werden müsste auch die Vereinbarkeit von Beruf und Familie im Erwerbsleben.
Melanie Haupt und Aysel Yollu-Tok legen in ihrer empirischen Analyse zum Riester-Sparen den Fokus auf nachfrageseitige Hemmnisse bei der ergänzenden Altersvorsorge. Sie schließen aus ihrer Analyse, dass sich die Einstellungen der Menschen mit der normativen Ausrichtung der Alterssicherungsreformen - der Teilprivatisierung der Vorsorge - größtenteils decken, obgleich die Eigenverantwortlichkeit nicht umfassend anerkannt werden würde. Sie finden unter anderem ein geringes Vertrauen der Verbraucherinnen und Verbraucher in die private und gesetzliche Altersvorsorge. Politischer Handlungsbedarf besteht ihrer Meinung nach bei der Stärkung des Vertrauens in die "dritte Säule", insbesondere durch mehr Aufklärung und Schaffung transparenter Kostenstrukturen.
Holger Balodis und Dagmar Hühne gehen der Frage nach, ob die private Vorsorge einen sinnvollen Beitrag zur Armutsvermeidung leistet. Ihre Untersuchung von 48 Anbietern klassischer, privater nichtgeförderter Rententarife ergibt, dass diese Produkte mit hohen Kosten belastet sind. Zudem seien die Kosteninformationen oft so versteckt, dass es den Versicherten nicht möglich sei, einen einfachen Kostenvergleich durchzuführen. Eine echte Kostenkennziffer wie die "Reduction of Wealth" könnte hier Abhilfe schaffen. Ihr Gesamturteil: Klassische Rententarife seien nur wenig geeignet, um der drohenden Altersarmut zu begegnen. Daher sollte über eine weitere Förderung der kapitalgedeckten Altersvorsorge nicht nachgedacht, sondern das Niveau der gesetzlichen Rentenversicherung wieder angehoben werden.
Claudia Tuchscherer beschreibt die Entwicklung und Ausgestaltung des von ihr maßgeblich mit entwickelten "Altersvorsorgekontos"; es begegne den Mängeln der Riester-Produkte und knüpfe an (alters-)armutsrelevante Themen an. Ein Kernelement und besonderer Vorteil dieses Modells sei eine zusätzliche private Absicherung des Armutsrisikos Erwerbsminderung, finanziert durch die Gemeinschaft der Vorsorgesparenden. Würde dieser Fall nicht eintreten, könnten mit dem angesparten Kapital Rentenabschläge zurückgekauft oder eine Rente on top ausgezahlt werden. Wettbewerbsrechtlich sei eine Trägerschaft des Kontos durch die deutschen Rentenversicherungsträger möglich. Für die Kapitalanlage plädiert die Autorin für einen sicherheitsorientierten Generationenfonds. Alles in allem wäre das Altersvorsorgekonto kostengünstig, einfach und transparent und ließe sich als (riester-)förderfähiges Basisprodukt, aber auch als Betriebsrentenmodell ausgestalten.
Thomas Lueg und Peter Schwark geben einen Überblick über die politische Diskussion zur Alterssicherung und tragen wesentliche Kritikpunkte an der Riester-Rente zusammen. Sie diskutieren drei Vorschläge zur Reform der privaten Altersvorsorge: (1) Rückabwicklung der Riester-Reformen, (2) Etablierung staatlicher Konkurrenz zu den Anbietern kapitalgedeckter Vorsorge durch freiwillige Zusatzbeiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung und (3) staatlich administrierte, kapitalgedeckte Vorsorgekonten. Alle drei Reformwege weisen den Autoren zufolge gravierende verbraucher-, ordnungs-, wettbewerbs- und/oder sozialpolitische Nachteile auf. Die Autoren zweifeln daran, dass ein Altersvorsorgekonto für die Sparer Effizienzgewinne bringen könne. Sie halten eine Anpassung der Riester-Rente für erforderlich, der Kreis der förderfähigen Personen sollte erweitert, ein Freibetrag für Geringverdiener eingeführt und die Riester-Rente dynamisiert werden.
Nicole Maisch und Gerhard Schick halten die ergänzende Altersvorsorge zwar für sinnvoll, betrachten das gegenwärtige System aber als "krank". Deshalb ist aus ihrer Sicht ein Neustart mit einem Bündel an Maßnahmen erforderlich, dazu gehören unter anderem: die Regulierung des provisionsbasierten Finanzvertriebs unter Aufsicht der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungen, Marktbeobachtung durch einen Finanzmarktwächter, verpflichtende Standards zur Mindestqualifikation von Finanzvermittlern, Etablierung einer Honorarberatung, transparente Kalkulation der Sterblichkeit, höhere Beteiligung der Sparenden an den Kostenüberschüssen, säulenübergreifende standardisierte Vorsorgeinformationen, Negativ- und Positivkriterien sowie ein verlässliches Gütesiegel für nachhaltige Geldanlagen. Angelehnt an die schwedische Altersvorsorge unterstützen die Autorin und der Autor zudem die Einführung eines riesterfähigen Basisproduktes.
Barbara Sternberger-Frey analysiert, inwieweit die privaten Berufsunfähigkeitsrenten die Versorgungslücke bei Invalidität schließen können. Auf der Grundlage von Produkttests kommt sie zu dem Ergebnis, dass einerseits die staatlichen Anreize zum Abschluss privater Versicherungen gegen Berufsunfähigkeit und Erwerbsminderung zu gering, andererseits die Angebote der Versicherer zu teuer seien - insbesondere für Risikogruppen. Sie moniert, die Anbieter würden ihre Tarife nach immer mehr Berufsgruppen differenzieren und "Rosinen picken". Die Gesundheitsprüfungen setzten (zu) hohe Hürden, die Annahmepolitik sei selektiv, ein brancheneinheitliches Muster bei der Risikoeinstufung sei nicht zu erkennen, und überwiegend unzureichend seien auch die Vertragslaufzeiten. Die Autorin rät unter anderem dazu, der Versicherungsbranche aufzuerlegen, einen Grundschutz anzubieten, vereinfachte Gesundheitsprüfungen durchzuführen, Berufe weniger zu differenzieren und größere Kollektive zu bilden. Sie sieht aber den Staat auch in der Verpflichtung, bei der gesetzlichen Erwerbsminderungsrente nachzubessern.
Florian Blank widmet sich der betrieblichen Altersvorsorge in Form von Entgeltumwandlung, deren Sicherungswirkungen sich seiner Meinung nach nur schwer beurteilen lassen. Erstens reduziere sich durch die Umwandlung das sozialversicherungspflichtige Entgelt und damit der Anspruch auf Arbeitslosengeld und Rente aus der GRV. Zweitens dämpfe die Umwandlung auch die Einnahmen der Sozialversicherung, was zu steigenden Beitragssätzen führen könne. Drittens mindere die Entgeltumwandlung über die Rentenformel die jährliche Rentenanpassung. Blank beanstandet, die Kosten der Entgeltumwandlung müssten von allen Versicherten und von allen Arbeitgebern getragen werden, der Nutzen käme aber nur den Versicherten und Arbeitgebern zugute, die Entgelt umwandeln. Angesichts der verteilungspolitischen Wirkungen spricht sich der Autor dafür aus, die Sozialabgabenfreiheit der Entgeltumwandlung aufzuheben.
Gert G. Wagner gibt in seinem Nachwort einen kurzen Überblick über aktuelle und potentielle Reformen der Altersvorsorge. Sein persönliches Fazit: Eine lebensstandardsichernde Altersversorgung allein durch die GRV wieder zu erreichen, sei politisch unrealistisch und würde in einer unsicheren Welt zudem ein Klumpenrisiko bedeuten. Die betriebliche Altersvorsorge werde zu Recht an Bedeutung gewinnen, erreiche jedoch bei weitem nicht alle gesetzlich Pflichtversicherten.
Unsere Alterssicherungspolitik. Gesetzliche Rentenversicherung: Sicherung des Lebensstandards oder nur Vermeidung von Altersarmut? Vierteljahrshefte zur Wirtschaftsforschung 2/2014, Duncker
Humblot, Berlin
Unsere Alterssicherungspolitik. Private und betriebliche Altersvorsorge: Ist die Rentenlücke ohne grundlegende Reformen zu schließen? Vierteljahrshefte zur Wirtschaftsforschung 3/2014, Duncker
Humblot, Berlin
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Mit zwei zeitgleich erscheinenden Vierteljahrsheften zur Wirtschaftsforschung dokumentiert das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) einen Ausschnitt der aktuellen Diskussion um die komplexen Fragen der Alterssicherungspolitik. Heft 2/2014 setzt sich schwerpunktmäßig mit der gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) und Heft 3/2014 mit der privaten und betrieblichen Altersvorsorge auseinander. Die Beiträge aus Wissenschaft und Wirtschaft sowie Positionspapiere aus der Politik im Überblick:
In ihren Editorials argumentieren Kornelia Hagen und Heinz Rothgang, dass unser gesetzliches Rentensystem trotz aller Mängel nach wie vor einer Systemlogik unterliegt und der beliebte Vergleich mit einer Dauerbaustelle oder einem kenternden Schiff - bei aller berechtigten Kritik - sachlich verfehlt und schädlich sei. Sie beanstanden vor allem, dass die Politik die Wirkungen der Umgestaltung des Alterssicherungssystems zu einem "Drei-Säulen-Prinzip" nicht achtsam genug beobachtet. Angesichts des sinkenden Niveaus der gesetzlichen Rente und des offensichtlichen Fehlens einer Ausgleichsfunktion der zweiten und dritten Säule der Altersvorsorge fordern sie dazu auf, über die Ziele und die Ausrichtung des Systems der Alterssicherung wieder einen breiten gesellschaftlichen Konsens herzustellen.
Ingo Schäfer beschäftigt sich mit der von der Bundesregierung geplanten "solidarischen Lebensleistungsrente", in der er die Vollendung des Paradigmenwechsels hin zu einem fürsorgeorientierten Rentensystem sieht. Damit würde nur das Symptom - unzureichendes Alterseinkommen -, aber nicht die Ursachen - geringe Löhne und die Rentenreformen - in den Blick genommen werden. Er plädiert dafür, die Beitragssätze für die GRV wieder an dem Leistungsziel der Sicherung des Lebensstandards und nicht mehr an der Höhe des Beitragssatzes auszurichten. Damit könnte letztlich die private und betriebliche Altersvorsorge entfallen.
Uwe Fachinger und Harald Künemund zeigen, dass Alterseinkünfte nach wie vor von den Leistungen aus der GRV dominiert werden. Die Einkünfte aus der betrieblichen und privaten Vorsorge seien unstet und böten bislang keinen verlässlichen Ausgleich zur Leistungsreduzierung in der GRV. Ihr Fazit lautet: Die Systemstrukturen und -anforderungen der drei Säulen sind völlig verschieden, eine Abstimmung zwischen den Säulen der Alterssicherung fehlt.
Volker Meinhardt vertritt die Meinung, das üblicherweise ausgewiesene Rentenniveau sei "geschönt". Würde man einen realitätsnahen Einkommensverlauf unterstellen und die Standardrente auf das letzte Erwerbseinkommen beziehen, so läge die Versorgung zwölf Prozentpunkte unter dem offiziell ausgewiesenen Rentenniveau. Er schlägt vor, das bisherige System der Altersvorsorge in eine Pflichtversicherung für alle Bürger ("Bürgerversicherung") umzuwandeln; diese sei armutsverhindernd und finanzierbar.
Carola Reimann fordert dazu auf, auch indirekt wirksame Alterssicherungspolitik - Arbeits-markt-, Gleichstellungs- und Familienpolitik - zu berücksichtigen, denn allein mit renten-rechtlichen Regelungen werden längere arbeitsmarkt- oder familienbedingte Ausfallzeiten, in denen keine ausreichende Altersvorsorge getätigt werden kann, immer weniger nachträglich zu "reparieren" sein. Ob die privat Vorsorgenden auch wirklich eine Alterssicherung auf dem angestrebten Niveau erzielen könnten, würde aber nicht zuletzt von der weiteren Entwicklung auf den Kapitalmärkten abhängen.
Christoph Butterwegge vertritt die Position, Altersarmut werde in Deutschland von den poli-tisch Verantwortlichen nicht als gravierend wahrgenommen, sie werde vielmehr verdrängt oder verharmlost. Dem Rentenpaket bescheinigt er, dass es zum ersten Mal seit 1972 wieder spürbare Leistungsverbesserungen in der GRV bringe, dass diese Verbesserungen aber weder allen Rentenbeziehenden und Versicherten noch vorrangig den bedürftigsten Älteren zugute kämen. Einer sich ausbreitenden Altersarmut wirke das Rentenpaket nicht entgegen, da es den beschlossenen Maßnahmen an Zielgenauigkeit fehlen würde.
Für Matthias W. Birkwald und Michael Popp ist das Abrücken vom Prinzip der Lebensstandardsicherung, die Aufkündigung des Generationenvertrags durch einen Generationenkonflikt und das Unterminieren der Umlagefinanzierung durch eine kapitalgedeckte Vorsorge "der größte Sündenfall der Nach-Blüm-Ära". An dem Rentenpaket der Großen Koalition kritisieren sie, es sei zu pauschal, in Teilen unsystematisch und falle hinter das Nötige einer Armutsbekämpfung zurück. Die Rente ab 63/65 halten sie für einen "Etikettenschwindel" mit harten Ausschlusskriterien, nur wenige würden davon profitieren. Auch die Verbesserungen bei der Erwerbsminderungsrente würden nicht ausreichen, um diese Rente wieder auf das Niveau zu Beginn des Jahrhunderts zu heben. Ihr rentenpolitischer Gegenentwurf zur Rentenpolitik der Großen Koalition umfasst die Rückkehr zu einem lebensstandardsichernden Rentenniveau auf der Grundlage gut entlohnter Arbeit. Sie skizzieren eine Bürgerversicherung, die eine einkommens- und vermögensgeprüfte Solidarische Mindestrente aus Steuermitteln garantieren soll.
Rudolf Martens reklamiert, dass in der sozial- und rentenpolitischen Diskussion in Deutschland Altersarmut nur anhand der Grundsicherung gemessen und diskutiert werde. Damit würde aber die heutige Altersarmut - gemessen an der gesamten Transferabhängigkeit - um die Hälfte unterschätzt werden. Auf der Grundlage eines regionalisierten Prognosemodells kommt er zudem zu dem Ergebnis, dass die Altersarmut im Jahr 2021 vor allem in Ballungsräumen und Stadtstaaten sowie in einzelnen Landkreisen in Ostdeutschland zunehmen werde. Er plädiert zur Vermeidung von Altersarmut für eine bedarfsorientierte Altersgrundsicherung, eine Anhebung der monatlichen Regelleistungen sowie für die Übernahme von Einmalleistungen und Stromkosten.
Christine Hagen und Ralf K. Himmelreicher legen eine empirische Analyse zur Erwerbsminderung in Deutschland vor. Ihr Fazit: Obwohl in Deutschland jeder fünfte Arbeitnehmer in die Erwerbsminderung gehen müsse, werde das Risiko einer Erwerbsminderung unterschätzt - von der Politik wie von den Versicherten. Ein alarmierender Befund sei der frühe und steigende Zugang in die Erwerbsminderungsrente aufgrund psychischer Erkrankungen und der hohe Anteil von erwerbsgeminderten Rentenbeziehern mit Grundsicherung. Hinzu komme, dass nur in den wenigsten Fällen die geringen Erwerbsminderungsrenten durch eine private Invaliditätsvorsorge kompensiert würden. Viele Betroffene verfügen aus finanziellen Gründen oder wegen Vorerkrankungen nicht über eine private Absicherung. Dass das Rentenpaket Verbesserungen für Erwerbsgeminderte vorsieht, bewerten die Autorin und der Autor positiv, aus sozialpolitischer Sicht seien diese Verbesserungen aber nicht hinreichend. Sie sprechen sich auch für flexible Instrumente des Übergangs in eine Erwerbsminderungs- wie auch eine Altersrente aus, die mehr auf Anreize denn auf Abschläge setzen.
Katja Möhring erweitert den Blick auf Gender-Aspekte im Alterseinkommen ("Mother Pension Gap"). Sie untersucht dafür die Wirkungen institutioneller Regelungen zur Berücksichtigung von Kindererziehung auf das Alterseinkommen von Müttern in 13 europäischen Ländern. Danach sei die tatsächliche Wirkung von Mütterrenten auf das Alterseinkommen von Frauen gering und daher (mit der Ausnahme in der Schweiz) nicht geeignet, die durch Kinderbetreuung entstehenden Einkommenslücken im Alter zu kompensieren. Im Gegensatz zur Mütterrente verbessere eine Basisrente, die ein adäquates Renteneinkommen unabhängig von der Beschäftigungshistorie garantiert, die Einkommenssituation von Müttern im Alter signifikant. Möhring spricht sich für eine Reform der Erwerbszentrierung staatlicher Rentenleistungen aus. Reformiert werden müsste auch die Vereinbarkeit von Beruf und Familie im Erwerbsleben.
Melanie Haupt und Aysel Yollu-Tok legen in ihrer empirischen Analyse zum Riester-Sparen den Fokus auf nachfrageseitige Hemmnisse bei der ergänzenden Altersvorsorge. Sie schließen aus ihrer Analyse, dass sich die Einstellungen der Menschen mit der normativen Ausrichtung der Alterssicherungsreformen - der Teilprivatisierung der Vorsorge - größtenteils decken, obgleich die Eigenverantwortlichkeit nicht umfassend anerkannt werden würde. Sie finden unter anderem ein geringes Vertrauen der Verbraucherinnen und Verbraucher in die private und gesetzliche Altersvorsorge. Politischer Handlungsbedarf besteht ihrer Meinung nach bei der Stärkung des Vertrauens in die "dritte Säule", insbesondere durch mehr Aufklärung und Schaffung transparenter Kostenstrukturen.
Holger Balodis und Dagmar Hühne gehen der Frage nach, ob die private Vorsorge einen sinnvollen Beitrag zur Armutsvermeidung leistet. Ihre Untersuchung von 48 Anbietern klassischer, privater nichtgeförderter Rententarife ergibt, dass diese Produkte mit hohen Kosten belastet sind. Zudem seien die Kosteninformationen oft so versteckt, dass es den Versicherten nicht möglich sei, einen einfachen Kostenvergleich durchzuführen. Eine echte Kostenkennziffer wie die "Reduction of Wealth" könnte hier Abhilfe schaffen. Ihr Gesamturteil: Klassische Rententarife seien nur wenig geeignet, um der drohenden Altersarmut zu begegnen. Daher sollte über eine weitere Förderung der kapitalgedeckten Altersvorsorge nicht nachgedacht, sondern das Niveau der gesetzlichen Rentenversicherung wieder angehoben werden.
Claudia Tuchscherer beschreibt die Entwicklung und Ausgestaltung des von ihr maßgeblich mit entwickelten "Altersvorsorgekontos"; es begegne den Mängeln der Riester-Produkte und knüpfe an (alters-)armutsrelevante Themen an. Ein Kernelement und besonderer Vorteil dieses Modells sei eine zusätzliche private Absicherung des Armutsrisikos Erwerbsminderung, finanziert durch die Gemeinschaft der Vorsorgesparenden. Würde dieser Fall nicht eintreten, könnten mit dem angesparten Kapital Rentenabschläge zurückgekauft oder eine Rente on top ausgezahlt werden. Wettbewerbsrechtlich sei eine Trägerschaft des Kontos durch die deutschen Rentenversicherungsträger möglich. Für die Kapitalanlage plädiert die Autorin für einen sicherheitsorientierten Generationenfonds. Alles in allem wäre das Altersvorsorgekonto kostengünstig, einfach und transparent und ließe sich als (riester-)förderfähiges Basisprodukt, aber auch als Betriebsrentenmodell ausgestalten.
Thomas Lueg und Peter Schwark geben einen Überblick über die politische Diskussion zur Alterssicherung und tragen wesentliche Kritikpunkte an der Riester-Rente zusammen. Sie diskutieren drei Vorschläge zur Reform der privaten Altersvorsorge: (1) Rückabwicklung der Riester-Reformen, (2) Etablierung staatlicher Konkurrenz zu den Anbietern kapitalgedeckter Vorsorge durch freiwillige Zusatzbeiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung und (3) staatlich administrierte, kapitalgedeckte Vorsorgekonten. Alle drei Reformwege weisen den Autoren zufolge gravierende verbraucher-, ordnungs-, wettbewerbs- und/oder sozialpolitische Nachteile auf. Die Autoren zweifeln daran, dass ein Altersvorsorgekonto für die Sparer Effizienzgewinne bringen könne. Sie halten eine Anpassung der Riester-Rente für erforderlich, der Kreis der förderfähigen Personen sollte erweitert, ein Freibetrag für Geringverdiener eingeführt und die Riester-Rente dynamisiert werden.
Nicole Maisch und Gerhard Schick halten die ergänzende Altersvorsorge zwar für sinnvoll, betrachten das gegenwärtige System aber als "krank". Deshalb ist aus ihrer Sicht ein Neustart mit einem Bündel an Maßnahmen erforderlich, dazu gehören unter anderem: die Regulierung des provisionsbasierten Finanzvertriebs unter Aufsicht der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungen, Marktbeobachtung durch einen Finanzmarktwächter, verpflichtende Standards zur Mindestqualifikation von Finanzvermittlern, Etablierung einer Honorarberatung, transparente Kalkulation der Sterblichkeit, höhere Beteiligung der Sparenden an den Kostenüberschüssen, säulenübergreifende standardisierte Vorsorgeinformationen, Negativ- und Positivkriterien sowie ein verlässliches Gütesiegel für nachhaltige Geldanlagen. Angelehnt an die schwedische Altersvorsorge unterstützen die Autorin und der Autor zudem die Einführung eines riesterfähigen Basisproduktes.
Barbara Sternberger-Frey analysiert, inwieweit die privaten Berufsunfähigkeitsrenten die Versorgungslücke bei Invalidität schließen können. Auf der Grundlage von Produkttests kommt sie zu dem Ergebnis, dass einerseits die staatlichen Anreize zum Abschluss privater Versicherungen gegen Berufsunfähigkeit und Erwerbsminderung zu gering, andererseits die Angebote der Versicherer zu teuer seien - insbesondere für Risikogruppen. Sie moniert, die Anbieter würden ihre Tarife nach immer mehr Berufsgruppen differenzieren und "Rosinen picken". Die Gesundheitsprüfungen setzten (zu) hohe Hürden, die Annahmepolitik sei selektiv, ein brancheneinheitliches Muster bei der Risikoeinstufung sei nicht zu erkennen, und überwiegend unzureichend seien auch die Vertragslaufzeiten. Die Autorin rät unter anderem dazu, der Versicherungsbranche aufzuerlegen, einen Grundschutz anzubieten, vereinfachte Gesundheitsprüfungen durchzuführen, Berufe weniger zu differenzieren und größere Kollektive zu bilden. Sie sieht aber den Staat auch in der Verpflichtung, bei der gesetzlichen Erwerbsminderungsrente nachzubessern.
Florian Blank widmet sich der betrieblichen Altersvorsorge in Form von Entgeltumwandlung, deren Sicherungswirkungen sich seiner Meinung nach nur schwer beurteilen lassen. Erstens reduziere sich durch die Umwandlung das sozialversicherungspflichtige Entgelt und damit der Anspruch auf Arbeitslosengeld und Rente aus der GRV. Zweitens dämpfe die Umwandlung auch die Einnahmen der Sozialversicherung, was zu steigenden Beitragssätzen führen könne. Drittens mindere die Entgeltumwandlung über die Rentenformel die jährliche Rentenanpassung. Blank beanstandet, die Kosten der Entgeltumwandlung müssten von allen Versicherten und von allen Arbeitgebern getragen werden, der Nutzen käme aber nur den Versicherten und Arbeitgebern zugute, die Entgelt umwandeln. Angesichts der verteilungspolitischen Wirkungen spricht sich der Autor dafür aus, die Sozialabgabenfreiheit der Entgeltumwandlung aufzuheben.
Gert G. Wagner gibt in seinem Nachwort einen kurzen Überblick über aktuelle und potentielle Reformen der Altersvorsorge. Sein persönliches Fazit: Eine lebensstandardsichernde Altersversorgung allein durch die GRV wieder zu erreichen, sei politisch unrealistisch und würde in einer unsicheren Welt zudem ein Klumpenrisiko bedeuten. Die betriebliche Altersvorsorge werde zu Recht an Bedeutung gewinnen, erreiche jedoch bei weitem nicht alle gesetzlich Pflichtversicherten.
Unsere Alterssicherungspolitik. Gesetzliche Rentenversicherung: Sicherung des Lebensstandards oder nur Vermeidung von Altersarmut? Vierteljahrshefte zur Wirtschaftsforschung 2/2014, Duncker
Humblot, Berlin
Unsere Alterssicherungspolitik. Private und betriebliche Altersvorsorge: Ist die Rentenlücke ohne grundlegende Reformen zu schließen? Vierteljahrshefte zur Wirtschaftsforschung 3/2014, Duncker
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