Ansprache von Bundesratspräsidentin Hannelore Kraft in der Gedenkstunde zu Ehren der Opfer der Sinti und Roma

  • Pressemitteilung der Firma Bundesrat, 17.12.2010
Pressemitteilung vom: 17.12.2010 von der Firma Bundesrat aus Berlin

Kurzfassung: Ansprache von Bundesratspräsidentin Hannelore Kraft in der Gedenkstunde zu Ehren der Opfer der Sinti und Roma Meine Damen und Herren, ich eröffne die Sitzung des Bundesrates. Wir gedenken heute der Opfer des nationalsozialistischen ...

[Bundesrat - 17.12.2010] Ansprache von Bundesratspräsidentin Hannelore Kraft in der Gedenkstunde zu Ehren der Opfer der Sinti und Roma


Meine Damen und Herren,

ich eröffne die Sitzung des Bundesrates.

Wir gedenken heute der Opfer des nationalsozialistischen Völkermordes an Sinti und Roma und der Gruppe der Jenischen.

Ich begrüße herzlich die Überlebenden dieser Verbrechen, die Angehörigen und Nachkommen der Opfer. Ich begrüße auch herzlich die Sprecherinnen und Sprecher und Vertreter der Opfergruppen. Im Namen des gesamten Hohen Hauses danke ich Ihnen für Ihr Kommen.

Wir alle kennen das Sprichwort "Die Zeit heilt Wunden."

Dürfen wir daraus den Schluss ziehen, diese Gedenkstunde sei 65 Jahre nach dem Ende des Weltkriegs ein Kalenderritual? Denn es sind ja seither drei Generationen geboren, die den Nationalsozialismus nur aus Erzählungen und Filmen, aus Geschichts- und Sozialkundeunterricht kennen.

Sind damit Gedenken und Trauer Pflichtübungen geworden?

Nein, auf keinen Fall.

Jeder von uns weiß, dass die Trauerarbeit des Einzelnen sehr lange dauern kann. Wenn wir einen nahen Verwandten, einen Freund oder eine Freundin verloren haben, brauchen wir lange, bis wir mit dem Verlust zu leben lernen. Dabei wissen wir: Einen Schlusspunkt der Trauer und des Schmerzes gibt es nicht.Wir erinnern uns nicht irgendwann zum letzten Mal und dann nie wieder. Nein, Verlust, Trauer und Gedenken gehören zum menschlichen Leben, zum Leben des Einzelnen und zum Leben der Gesellschaft. "Und jede Generation muss sich mit der Geschichte des eigenen Landes neu auseinandersetzen." (Johannes Rau)

Wenn wir heute der Opfer von Sinti und Roma gedenken, dann gehört das also zu unserer geschichtlichen Identität und zu unserer Verantwortung für die Zukunft, denn Sinti und Roma sind Teil der deutschen Identität.

Wir gedenken jedes einzelnen Opfers, das durch Rassenwahn und den Terror des Nationalsozialismus um Leben und persönliches Glück gebracht worden ist.

Sehr geehrte Damen und Herren,

zwischen 1933 und 1945 wurden 500.000 Sinti, Roma, Jenische und Angehörige verwandter Völker aus ganz Europa erfasst, gedemütigt, deportiert, gequält und ermordet.

Gestern vor 68 Jahren, am 16. Dezember 1942, unterzeichnete Heinrich Himmler den sogenannten Auschwitzbefehl. Dieser Befehl ist in einem Erlass des Reichssicherheitshauptamtes aus dem Januar 1943 überliefert. Dort wurde angeordnet, Personen nach bestimmten Richtlinien auszuwählen und in einer Aktion von wenigen Wochen in ein Konzentrationslager einzuweisen.

Das Konzentrationslager war das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau.

Noch vor Himmlers Befehl, in der Folge des Überfalls auf die Sowjetunion, hatten Einsatzgruppen aus Polizeikräften und der SS systematisch Juden, kommunistische Funktionäre und eben auch Sinti und Roma getötet. Seit Anfang 1943 wurden alle Sinti und Roma, deren man habhaft werden konnte, nach Auschwitz verschleppt. Heute wissen wir, dass im Rahmen der Einschränkung der Erwerbsmöglichkeiten, der Errichtung von kommunalen Sonderlagern und schließlich der Deportationen immer wieder gerade lokale Instanzen Vorstöße unternahmen, die die Verfolgung insgesamt vorantrieben und verschärften. Ohne die Unterstützung und die aktive Mitarbeit verschiedenster Dienststellen, von Ordnungsämtern, von Fürsorge und Polizei, wären Verfolgung und Ermordung nicht denkbar gewesen.

Die Verfolgung fand für jeden sichtbar mitten in der Gesellschaft statt, sie wurde nicht allein von fanatischen Nationalsozialisten betrieben.

Nein, ganz normale Deutsche wurden zu Rädchen im Getriebe der Vernichtung.

Die meisten der deportierten Sinti und Roma haben Auschwitz nicht überlebt. Von Auschwitz zu reden, überfordert uns noch immer. Denn was dort geschah, widersetzt sich all unseren Maßstäben des Denkens und Empfindens. In unserer Ratlosigkeit fallen uns nur Formeln ein:

"Tiefpunkt der modernen Zivilisation", "Absturz in die Barbarei" - so oder ähnlich lauten unsere Versuche, das Grauen in Worte zu fassen. Das Böse, das in Auschwitz geschah, wird wohl immer einen Rest von Erklärungsnot hinterlassen.

Wir wissen heute:

Am Monument des Bösen bauten viele mit; die meisten aus freien Stücken und nicht wenige aus Gründen des beruflichen, politischen oder privaten Fortkommens. Nur wenige Hände regten sich gegen die nationalsozialistische Unmenschlichkeit. Im Klima allgemeiner Gleichgültigkeit hatte Zivilcourage keine Chance.

Der Auschwitz-Überlebende Primo Levi hat über seine Erfahrungen gesagt, unauslöschlicher als die Tätowierungen auf dem Unterarm sei den Überlebenden die Erinnerung an die Zeit, in der sie keine Menschen waren. Levi hat Auschwitz letztlich doch nicht überlebt:

mehr als vier Jahrzehnte danach hat er Selbstmord begangen.

Er hatte nicht vergessen können.

Sehr geehrte Damen und Herren,

der Wiederaufbau ging einher mit weitgehendem öffentlichen Desinteresse an Wiedergutmachung. Sinti und Roma fanden keine Unterstützung, hatten es besonders schwer, als Minderheit anerkannt zu werden. Vielen blieben berechtigte Ansprüche in den Wiedergutmachungsverfahren versagt. Dass auch Sinti und Roma Opfer des Holocaust waren, war in der breiten Öffentlichkeit lange nicht präsent.

Wir verdanken es vor allem der Arbeit der Verbände deutscher Sinti und Roma, des Zentralrats und anderer Zusammenschlüsse, dass seit Ende der 70er Jahre vieles in Bewegung gekommen ist.

1995 - eigentlich viel zu spät - wurden die 70.000 deutschen Sinti und Roma deutscher Staatsangehörigkeit in das "Rahmenabkommen zum Schutz nationaler Minderheiten" aufgenommen. Das Interesse am Schicksal der Sinti und Roma ist seitdem gewachsen, es ist aus unserem Bewusstsein nicht mehr zu verdrängen.

Doch, und das sollte in einer Gedenkstunde wie dieser nicht verschwiegen werden:

Unsere Gesellschaft ist nicht frei von Klischeevorstellungen und Vorurteilen. Demokratien und ihre Bürger sind nicht per se immun gegen vordemokratische Verhaltensweisen. Deshalb gehört zum Gedenken an die Toten auch der gemeinsame Appell, sensibel zu sein gegenüber den Forderungen der Überlebenden und der nachwachsenden Generationen dieser Minderheiten. Sinti und Roma sind zwar Teil der deutschen Gesellschaft, dennoch im deutschen Alltag zum Teil auch heute noch von Diskriminierung und Ausgrenzung betroffen.

Darüber dürfen wir nicht hinwegsehen. Dagegen müssen wir beherzt und mutig angehen.

Ich danke deshalb allen, die sich in der Bürgerrechtsbewegung der Sinti und Roma engagieren und somit die Anliegen der Sinti und Roma auch zu ihrem eigenen Anliegen machen.

Ich begrüße den "Europäischen Bürgerrechtspreis der Sinti und Roma", der einen Beitrag leistet zur Wahrung der Menschenrechte. Er ist zugleich ein Appell an alle Teile der Gesellschaft, gegen überkommene Klischees, Vorurteile und jede Form von Ausgrenzung vorzugehen.

Sehr geehrte Damen und Herren,

Deutschland hat von der Geschichte eine zweite Chance erhalten, die Chance auf einen freiheitlich demokratischen Rechtstaat. Wir haben diese Chance genutzt. Wir leben seit 65 Jahren in Frieden, zum ersten Mal in unserer Geschichte in Frieden mit allen unseren Nachbarn.

Die Bundesrepublik Deutschland ist heute eine aufgeklärte, selbstbewusste und auch geschichtsbewusste Demokratie. Das zeigt diese Stunde, in der wir an die Opfer der Sinti und Roma erinnern. Diese Erinnerung muss wach gehalten und an die jüngere Generation weitergegeben werden. Denn glücklicherweise gab es nicht nur das Grauen von Auschwitz. Es gab auch die Faszination, die Leben und Kultur von Sinti und Roma in Europa und in Deutschland seit vielen Jahrhunderten ausgeübt haben. (In Deutschland wurden die Sinti 1407 in Hildesheim erstmals urkundlich erwähnt)

Nur wenn Menschen und besonders junge Menschen die Chance haben, sich mit der ganzen Geschichte und der ganzen Kultur von Sinti und Roma vertraut zu machen, nur dann können sie verstehen:

Sinti und Roma sind Teil unserer Geschichte und Kultur. Sie sind keine Fremden, sie gehören zu uns.

Meine Damen und Herren, ich bitte Sie nun, sich von Ihren Plätzen zu erheben, um der Opfer nationalsozialistischer Gewalt unter den Sinti und Roma, den Angehörigen und der eigenständigen Gruppe der Jenischen und anderer Fahrender zu gedenken.

Ich danke Ihnen.


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