Rede Peer Steinbrück auf dem SPD-Bundesparteitag

  • Pressemitteilung der Firma SPD, 06.12.2011
Pressemitteilung vom: 06.12.2011 von der Firma SPD aus Berlin

Kurzfassung: - Es gilt das gesprochene Wort - Ich möchte zunächst gerne Sigmar Gabriel herzlich zur Wiederwahl zum Parteivorsitzenden gratulieren. Nach zwei Jahren schwieriger Tätigkeit ein so gutes Ergebnis zu erzielen, lieber Sigmar, das stärkt dich, aber ...

[SPD - 06.12.2011] Rede Peer Steinbrück auf dem SPD-Bundesparteitag


- Es gilt das gesprochene Wort -

Ich möchte zunächst gerne Sigmar Gabriel herzlich zur Wiederwahl zum Parteivorsitzenden gratulieren. Nach zwei Jahren schwieriger Tätigkeit ein so gutes Ergebnis zu erzielen, lieber Sigmar, das stärkt dich, aber das stärkt auch die Partei. Hättest du ein noch besseres Ergebnis erzielt, dann würde ich dich jetzt Erich nennen, aber mit den 91,5 Prozent kannst du und kann die Partei wunderbar leben.

Ich möchte auch allen wiedergewählten, neugewählten Mitgliedern des Parteivorstandes herzlich zur Wahl gratulieren. Ich wünsche ihnen den Mut, die Dinge zu ändern, die sie ändern können, die Gelassenheit, die Dinge hinzunehmen, die sie nicht ändern können, und die Weisheit, das Erste vom Zweiten zu unterscheiden.

Die Politik, ist – ich muss hinzufügen: wieder einmal - bei den großen Fragen angekommen. Zwanzig Jahre nach der deutschen und damit auch nach der europäischen Wiedervereinigung findet dieser Parteitag zu einer Zeit statt, die sehr grundsätzliche Frage aufwirft:
Zerfällt die Europäische Union in eine losen Staatenverbund, reduziert auf einen Binnenmarkt – jeder steht für sich allein -, oder gehen wir weiter den Weg der europäischen Integration vor dem Hintergrund erheblicher politischer, ökonomischer Veränderungen in den globalen Gewichtsklassen? Schafft sich die Europäische Union als Konsequenz aus dieser Krise neue politische Strukturen und vor allen Dingen auch weitergehende demokratische Verfahren? Wie entwickeln sich die Wirtschaft und die Gesellschaft unter dem Einfluss – fast hätte ich gesagt: unter dem Diktat - entgrenzter und entfesselter Finanzmärkte? Bei wem liegt eigentlich der Taktstock des Geschehens? Nehmen die Fliehkräfte in unserer Gesellschaft zu, möglicherweise sogar mit einer Gefährdung der inneren Friedfertigkeit unserer Gesellschaft, oder gelingt es uns, den Zusammenhalt dieser Gesellschaft zu erhalten? Sind wir uns der sehr weit reichenden sozialen, ökonomischen, gesellschaftlichen und auch ökonomischen Konsequenzen der demografischen Entwicklung bewusst, oder stehen wir plötzlich an der Wand, weil wir feststellen, dass diese Demografie die finanziellen Grundlagen dieses Kulturgutes des Sozialstaates zerfrisst? Ist die Politik – namentlich das Parteiensystem - in der Lage, das Vertrauen und das Zutrauen der Bürger zurückzugewinnen, oder erodiert dies weiter mit einer Gefährdung der demokratischen Substanz unserer Gesellschaft?

Es hat über alle Jahrzehnte der deutschen Nachkriegsgeschichte hinweg bestimmt nicht an Herausforderungen gefehlt, und die SPD hat ihren Beitrag geleistet, diese Herausforderungen zu meistern. Wo stünde die Bundesrepublik Deutschland heute ohne die teilweise bitteren Reformen und Maßnahmen in der Regierungszeit von Gerhard Schröder und ohne die Beiträge sozialdemokratischer Minister und Ministerinnen in der Großen Koalition?

Die schwarz-gelbe Bundesregierung profitiert davon. Aber wir dürfen, wie ich finde, mit mehr Selbstbewusstsein über das reden und das darstellen, was uns in diesen letzten zehn Jahren gelungen ist.

Es hat an Herausforderungen nicht gefehlt, aber wir haben es heute mit einer neuen Qualität zu tun:

Kommt es in der weiteren Integration Europas möglicherweise zu der Abgabe nationaler souveräner Rechte auf europäische Institutionen? Das hätte sehr weitreichende Folgen, auch mit Blick auf das Grundgesetz.

Kommen wir voran mit der Rückgewinnung des Primats der Politik?
Können wir ein Auseinanderdriften von Arbeitsmarkt und der Gesellschaft verhindern?

Können wir die demografische Entwicklung in den Griff kriegen? Können wir die Lunte der Folgen dieser demografischen Entwicklung austreten?

Und gewinnen wir das Vertrauen, die politische Legitimation wieder zurück, indem wir den Menschen gegenüber glaubwürdiger auftreten als bisher, gegebenenfalls auch mit einem anderen politischen Stil?

Es geht also um ernsthafte Dinge, und es geht deshalb auch um ernsthafte Debattenbeiträge auf diesem Parteitag und nicht um die Befriedigung einer medialen Neugier.

Das ist die Erwartung von euch Delegierten, aber das ist auch der Anspruch der Menschen, die uns zuhören und die wir neugierig machen wollen auf die SPD. Genau das, liebe Genossinnen und Genossen, ist diesem Parteitag bisher hervorragend gelungen.

Die großen Fragen schließen nicht aus, sich über die aktuelle Politik zu erregen:
Ich ärgere mich mit euch über den schamlosen Betrug der CDU bei der Einführung einer Lohnuntergrenze auf ihrem letzten Parteitag.

Ich ärgere mich mit euch über die Zögerlichkeit, über das Taktieren bei der Einführung einer Umsatzsteuer auf Finanzgeschäfte, über die dämliche, fatale und skandalöse Fernhalteprämie, die unter integrationspolitischen, unter bildungspolitischen Gesichtspunkten, auch unter dem Gesichtspunkt der Förderung der Erwerbsfähigkeit von Frauen reiner Schwachsinn ist, die 2 Milliarden kostet - 2 Milliarden, die wir dringend für den Ausbau der Betreuungsinfrastruktur viel besser brauchen.

Ich ärgere mich mit euch über den fiskalischen, auch verteilungspolitischen Schwachsinn einer Steuersenkung - nichts anderes als ein Pausentee für die FDP auf der Wegstrecke bis zur nächsten Wahl.
Einige wollen denen vielleicht lieber einen Abführtee verpassen.

Ich bin mir ganz sicher, dass das, was Sigmar gestern gesagt hat, richtig ist, dass nämlich Wolfgang Schäuble täglich eine Kerze ins Fenster stellt - während der Adventszeit vielleicht zwei Kerzen -, dass die SPD im Bundesrat diesen Schwachsinn verhindert.

Ich ärgere mich nicht, aber ich bin empört über das entsetzliche Versagen der Sicherheitsbehörden und über die politische Blindheit gegenüber dem Rechtsterrorismus in Deutschland.

Die SPD aber, liebe Genossinnen und Genossen, weiß seit jeher, dass allein Empörung, allein gute Absichten, allein das gut Gemeinte, allein der moralische Impetus politisch noch nichts verändert und nichts verbessert.

Das kann nur demokratisch legitimierte Politik, also das gut Gemachte. Also muss die SPD Mehrheiten gewinnen, um Frau Merkel und die amtierende Bundesregierung in den Vorruhestand zu schicken.

Genau das muss das ganze Sinnen und Trachten der SPD sein: mit unseren Konzepten, mit unseren Beschlüssen, mit unserer öffentlichen Darstellung Regierungsfähigkeit zu belegen und Regierungswillen zu dokumentieren. Das muss unser Anliegen sein.

Das heißt aber auch, dass nach Beendigung dieses Parteitages jeder unserer Beschlüsse bei einer dann hoffentlich stattfindenden Regierungsübernahme den Realitätstest und den Robustheitstest gegenüber Einwänden bestehen können muss. Darüber müssen wir nachdenken bei jeder Beschlusslage.

Der Maßstab für unsere Regierungsfähigkeit, der Maßstab für unseren Regierungswillen, liebe Genossinnen und Genossen - da wird es etwas anstrengend -, ist nicht der Rückzug auf das Parteiverträgliche und nicht alleine unsere Selbstvergewisserung.

Der Maßstab ist die inhaltliche Öffnung auf eine sich verändernde Welt und eine sich verändernde Gesellschaft, die personelle Öffnung für ein breites Angebot unterschiedlicher politischer Charaktere und die organisatorische Öffnung hin auf eine Einladung an Interessierte und Engagierte in dieser Gesellschaft, die wir aber nicht gleich parteipolitisch verhaften wollen.

Mehrheiten gewinnen wir mit Angeboten, die über die Grenzen der SPD hinaus als vernünftig, als konsistent angesehen, von einer klaren politischen Haltung geprägt sind - und deshalb auf Zustimmung stoßen. Das gilt nicht nur, aber das gilt im Besonderen für den Bereich von Wirtschaft und Finanzen, wo die SPD - das tut ein bisschen weh - trotz unserer Leistung nach wie vor um die Anerkennung ihrer Kompetenz werben muss. Die Mobilisierung der Partei durch ein Identität stiftendes Programm und das wertgeleitete Bekenntnis ist zweifellos eine notwendige Bedingung, um Wahlen zu gewinnen. Eine hinreichende Bedingung, liebe Genossinnen und Genossen, ist sie nicht, wenn sie über die Parteigänger und Sympathisanten der SPD hinaus nicht so viele Wähler wie Wählerinnen erreichen, dass sich dann eine Mehrheit für uns ergibt.

Nach der ergreifenden Rede von Helmut Schmidt und dem leidenschaftlichen pro-europäischen Plädoyer von Frank-Walter Steinmeier will ich meine Ausführungen zu Europa relativ kurz halten.

Ich bin davon überzeugt, dass ein Zerfall der Euro-Zone ziemlich schnell auch eine politische Renationalisierung zur Folge hätte - mit all den Risiken, die schon mehrfach von vielen angesprochen worden sind. Das würde die europäische Integration vor dem Hintergrund einer sich um uns herum deutlich verändernden Welt um Jahrzehnte zurückwerfen. Ich sage aber: Diese europäische Integration ist die Antwort auf 1945, mit meiner Generation als erster, die nicht in einem europäischen Krieg verheizt worden ist, und sie ist die Antwort auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts - beides!

Wir müssen als Sozialdemokraten den Faden aufnehmen, der in diesem Parteitag von vielen gelegt worden ist, nicht zuletzt auch durch die Rede von Francois Hollande, durch den bemerkenswerten Auftritt von Jens Stoltenberg, durch die Teilnahme von Boris Tadic. Das heißt, wir müssen eine neue Erzählung über Europa entwerfen, die insbesondere auch die jüngere Generation packt - so wie viele von uns in den 60er-, in den 70er-Jahren von dieser europäischen Vision gepackt worden sind - und die gleichzeitig unsere Bürger davon überzeugt, dass deutsche Solidarleistungen für dieses Europa richtig sind.

Darin liegt mein Hauptvorwurf an die Bundeskanzlerin: dass sie anstelle einer solchen europäischen Erzählung, anstelle einer Erklärung, was dieses Europa für Deutschland bedeutet, mit den negativ unterlegten Begriffen der Transferunion und der Haftungsgemeinschaft Ressentiments geweckt hat.

Die Bundeskanzlerin hat keinen Zugang zu dieser europäischen Erzählung gefunden, sondern sie sieht das Ganze sehr physikalisch, sehr mechanisch. Aber Europa ist nicht Physik, Europa ist nicht Mechanik. Europa ist über seine schmerzhaften historischen Erfahrungen hinaus, über die Tatsache hinaus, dass wir in den letzten 50, 60 Jahren uns zu einer einmaligen Wirtschaftsregion entwickelt haben, viel mehr. Europa ist Demokratie. Europa ist Rechtsstaatlichkeit mit unabhängigen Gerichten. Europa ist Sozialstaatlichkeit. Europa ist die Trennung von Staat und Kirche. Europa ist kulturelle Vielfalt. Europa ist Freizügigkeit, Pressefreiheit, Meinungsfreiheit. Europa ist der Motor der Aufklärung. Das alles ist Europa.

Das ist der Stoff, aus dem sich die europäische Erzählung zusammensetzt. Wir müssen diese Erzählung entwerfen, wir Sozialdemokraten.

Freiheit, hat Willy Brandt gesagt, ist nicht alles. Aber ohne Freiheit ist alles nichts. Viele von euch erinnern sich vielleicht an seine Abschiedsrede als Parteivorsitzender in Bonn, wo er gesagt hat ich zitiere ihn : "Wenn ihr mich fragt, was mir das Wichtigste ist, dann sage ich euch: Neben dem Frieden die Freiheit." Freiheit von Unterdrückung und Knechtschaft, Freiheit von Ausbeutung und von Verelendung, Freiheit von Krieg und von Terror, aber eben auch Freiheit zur Selbstbestimmung, Freiheit
zur Bildung.

Das ist das sozialdemokratische Freiheitsideal, das mich Anfang 1969 in die SPD geführt hat. Dieses sozialdemokratische Freiheitsideal begründet auch immer ein Aufstiegsversprechen, das Versprechen, du sollst es besser haben als deine Vorväter, das Versprechen, deine Kinder sollen es eines Tages besser haben als du. Das Problem ist, dass die Erfüllung dieses Aufstiegsversprechens unter den obwaltenden Bedingungen immer schwerer fällt.

Es kann sein, dass deshalb der eine oder die andere uns auch auf der Wegstrecke der letzten Jahre verlassen haben.

Freiheit ist aber nicht grenzenlos. Sie endet dort, wo sie die Freiheit anderer einschränkt. Das gilt auch und insbesondere für die Freiheit der Märkte. Freiheit entsteht nur dort, wo nicht Egomanie, wo nicht Rücksichtslosigkeit, sondern wo Gemeinsinn und Gemeinwohl herrschen.

Diese Gemeinwohlorientierung muss sich die SPD auf ihre Fahnen schreiben. Diese Gemeinwohlorientierung muss sie einem Laissez faire, einer Ellbogenfreiheit des Stärkeren, einer Ellbogenfreiheit des durch Herkunft Privilegierten, einer Marktorthodoxie entgegensetzen. Das kann auch in der Konkurrenz zu anderen Parteien am ehesten, um nicht zu sagen, allein die SPD am besten.

Es kann nicht sein, dass unter der Devise Freiheit für die Märkte ein Raum für asoziales und amoralisches Verhalten eingeräumt wird, dass alle Lebensbereiche von der Bildung bis zur kommunalen Daseinsvorsorge einem ökonomischen Verwertungs- und Renditekalkül unterworfen werden. Das zersetzt Gesellschaft, das zersetzt den Zusammenhalt dieser Gesellschaft.

Diese Marktorthodoxie mit ihrer neoklassischen, auch neoliberalen Begründung - obwohl ich im Sinne von Sigmar den Begriff der Liberalität für die SPD nicht preisgeben möchte - ist in dieser Krise mit ihren erheblichen Folgekosten gescheitert. Mit ihr sind auch die Prätorianer gescheitert, die uns diese Marktversessenheit wie eine Monstranz vorgehalten haben.

Dazu gehört in erster Linie die FDP. Aber ich erinnere auch an Leipzig I der CDU, wo sie auf dem Tripp dieser Deregulierung und auch einer Staatsverachtung gewesen ist. Das darf man nicht dem Kurzzeitgedächtnis anheimfallen lassen.

Selbstkritisch ist hinzuzufügen, dass auch wir Sozialdemokraten uns diesem Paradigma der Deregulierung wahrscheinlich zu lange, zu widerstandlos ergeben haben.

Selbstkritisch ist hinzuzufügen, dass wir die Deutungshoheit zu sehr den anderen überlassen haben. Das schließt eigene Irrtümer ein, insbesondere mit Blick auf meine deutliche Unterschätzung dessen, was sich im Schattenbankenwesen entwickelt hat mit enormen Risiken.

Gelegentlich geht mir durch den Kopf, liebe Genossinnen und Genossen, ob die politischen, die gesellschaftlichen Kosten der Krise nicht größer sein könnten als die wirtschaftlichen Verluste und die wirtschaftlichen Folgen.

Warum? Nun, viele Menschen zweifeln. Sie zweifeln an der Steuerungs- und Handlungsfähigkeit der Politik. Sie haben den Eindruck, dass nicht etwa demokratisch legitimierte Institutionen ihren Weltenlauf oder ihre Lebenslauf und ihre Arbeits- und Lebensverhältnisse bestimmen, sondern anonyme, entgrenzte, entfesselte Märkte. Daraus kann sich, wenn man nicht aufpasst, durchaus eine legitimatorische Krise unserer demokratischen Gesellschaftsordnung und auch unseres wirtschaftlichen Ordnungsmodells ergeben.
Das meine ich mit den politisch-gesellschaftlichen Kosten, die weit über den ökonomischen Effekt hinausgehen.

Die SPD beschreibt in ihrem Antrag "Fortschritt und Gerechtigkeit, wirtschaftlicher Erfolg, solide Finanzen und sozialer Zusammenhalt" ihre Vorstellungen von einem neuen Fortschrittsmodell für unser Land. Sie misst der Regulierung der Finanzmärkte eine zentrale Bedeutung zu.

Es hat dazu diverse Vorschläge gegeben. Ihr habt vielleicht in Erinnerung, wie weit auch Helmut Schmidt in seinem Vortrag am Sonntag gegangen ist. Ich will das nicht wieder aufgreifen. Ich selber habe auch eine Reihe von Vorschlägen gemacht. Das geht sehr weit, was wir brauchen.

Wir brauchen ein Verbot, dass Banken Rohstoffe und Nahrungsmittel erwerben und lagern können.

Wir brauchen ein Verbot des Handelns mit Kreditversicherungsscheinen von denjenigen, die sich gar nicht konkret gegen einen Kreditausfall versichern.

Wir brauchen ein Verbot von Derivaten. Das sind Wetten auf zukünftige Preise. Das kann man auf Schweinehälften, auf Nickel, auf Gold, auf Währungen machen, soweit diese Derivate nicht einer realwirtschaftlichen Absicherung dienen, die übrigens auch von vielen deutschen Industrieunternehmen genutzt werden und damit durchaus im Interesse auch ihrer Arbeitnehmerschaft liegen.

Ich bin in der Tat für ein Trennbankensystem.

Es fehlt also nicht an weitgehenden Vorschlägen. Der Punkt ist, dass wir diese Vorschläge allein in nationalstaatlicher Reichweite vielleicht versuchen können zu setzen. Aber es wird nicht ausreichen. Wir müssen vielmehr eine internationale Reichweite erzielen. Das heißt, wir müssen das tun, was dieser Finanzkapitalismus längst getan hat, sich internationalisieren. Aber wenn das der Fall ist, dann ist die Stärkung, die Fortentwicklung europäischer Institutionen umso wichtiger.

Wenn das richtig ist, dann geht es darum, dass sich die europäischen sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien neu organisieren und mehr Gewicht auf die Platte in Europa bringen.

Man wird jedenfalls das Totschlagsargument abwehren müssen, das lautet: Das kannst du nicht umsetzen im G-20-Kreis, du kannst es nicht umsetzen im Kreis der EU der 27. Nein. Liebe Genossinnen und Genossen, dann müssen wir mit den Ländern anfangen, die in der Europäischen Währungsunion sind.

Wir haben es versäumt, das Fenster zwischen dem Herbst 2008 und Frühjahr 2009 für eine weitergehende Regulierung und Aufsicht zu nutzen. Das ist zuzugeben. Aber wenn wir dabei sind, dieses Europa in eine fiskalische und politische Union zu überführen, wenn es sogar so weit kommen sollte, dass wir erneut Banken mit öffentlichem Geld stützen müssen, damit die Dominosteinreihe nicht fällt, dann diesmal nur unter der Bedingung einer weiter reichenden Regulierung und Aufsicht über die Finanzmärkte.

Es geht aber nicht nur um die Stabilität der Finanzmärkte. Es geht in diesem Antrag auch um die Stabilität unserer Gesellschaft. Tatsächlich haben wir es mit einer ganzen Reihe von Fliehkräften in dieser Gesellschaft zu tun, die sie auseinanderreißt, die eine Drift auslöst. Diese Drift ist festzustellen in der Einkommens- und Vermögensverteilung - nachweislich, nicht von der Abteilung Agitation und Propaganda der SPD dargestellt, sondern statistisch fassbar. Diese Drift in der Gesellschaft ist gegeben durch den demografischen Druck, wo die Gegenwartsinteressen meiner Generation gelegentlich in Konfrontation zu Zukunftsinteressen der jüngeren Delegierten in diesem Saal stehen.
(Vereinzelter Beifall)

Das war ein einsamer Beifall klatschender junger Delegierter hier.

Diese Fliehkräfte erstrecken sich auf die Spaltung des Arbeitsmarktes - das kennt ihr alles -, wo der Anteil atypischer Beschäftigungsverhältnisse immer weiter zunimmt. Diese Fliehkräfte erstrecken sich darauf, dass der Zugang zu Bildungseinrichtungen nach wie vor vom materiellen und sozialen Status der Eltern abhängig ist. Diese Drift gibt es auch mit Blick auf die Frage, wie wir die Integrationsbereitschaft derjenigen, die zu uns kommen, verbinden können mit der Integrationsfähigkeit der Einheimischen. All das wirkt in dieser Gesellschaft als Fliehkraft.

Es gibt einerseits zu viele Jugendliche ohne Schul- und Berufsabschluss. Es gibt zu viele gut ausgebildete Jugendliche, die erst nach dem vierten Praktikum einen Job kriegen.

Es gibt zu viele ältere Arbeitnehmer, die arbeiten wollen und müssen, die aber keinen Job haben. Es gibt zu viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die Niedrigstlöhne und Niedriglohn beziehen und damit in der Würde ihrer Arbeit nicht anerkannt werden.

Es gibt zu viele Langzeitarbeitslose, die kein Entrinnen aus Hartz IV sehen.
Aber es gibt auf der anderen Seite eben auch eine hochleistungsfähige, eine hoch motivierte junge Generation, die für ihre Leistungen belohnt werden und Anerkennung finden will, die übrigens den augenblicklichen linear-progressiven Tarif als Singles gar nicht witzig findet.

Es gibt nach Peter Glotz nach wie vor eine sehr starke - er nennt es - produktivistische Klasse von Facharbeitern, hochgradig qualifiziert, das Rückgrat der deutschen Industrie. Es gibt einen sehr stark stabilisierenden Mittelstand von kleinen, mittleren, von Familienunternehmen. Es gibt auch disponierende Eliten in den Unternehmen, die einer Verantwortungsethik folgen.

All diese Gruppen wird die SPD berücksichtigen und ansprechen müssen, wenn sie den Charakter als Volkspartei behalten will.

Wie machen wir das? Indem wir erstens die sozialen Sicherungssysteme mit der Absicherung gegen die großen Lebensrisiken demografiefester machen und auch robuster finanzieren gegen wirtschaftliche Schwankungen. Indem wir zweitens Bildung als Schlüssel für ein selbstverantwortetes und freies Leben betrachten und auch entsprechend finanzieren und indem wir drittens zur Finanzierung öffentlicher Leistungen jeden nach seiner individuellen Leistungsfähigkeit heranziehen, aber – jetzt kommt es – ohne ihn so zu belasten, dass er den Gesellschaftsvertrag, man kann auch sagen: den Solidarvertrag, und seine Leistungsbereitschaft aufkündigt.

Die SPD ist die Partei, die das Bündnis zwischen den Starken und Schwachen organisieren muss. Aber dann darf man die Starken auch nicht verprellen, weil dann dieses Bündnis nicht zustande kommt.

Das ist mein Argument gegen eine prohibitive Besteuerung. Man darf den politischen Kontrahenten nicht die Munition in die Hand geben, die ihnen sehr dienlich ist, um ein ansonsten sehr stimmiges Finanz- und Steuerkonzept der SPD einer Diskreditierung anheimzustellen.

Wenn jemand glaubt, dass wir mit einer solchen prohibitiven Besteuerung sehr gute Chancen haben, gewählt zu werden, dann möchte ich, bevor ihr über mögliche Änderungsanträge beschließt, gerne, dass ihr Christian Ude, Torsten Albig und Stephan Weil fragt, ob sie das denn auch als eine Chancenverbesserung in ihren kommenden Landtagswahlkämpfen ansehen.

Ich will drei Punkte aufgreifen, die in diesem Antrag eine große Rolle spielen. Unterschätzt mir nicht den Stellenwert, den die Bürgerinnen und Bürger dem soliden Umgang mit den Staatsfinanzen zumessen. Wir unterschätzen das gelegentlich.

(Tonstörung)
Das ist die CDU. Ja, die hören mit. Die hören ganz genau mit.

Staatsverschuldung, liebe Genossinnen und Genossen, ist Umverteilung. Wer profitiert von einer Staatsverschuldung? Doch nicht die alleinerziehende Verkäuferin, die mit 1.100 oder im Osten mit 900 Euro nach Hause kommt. Die kauft keine Staatsanleihen. Staatsverschuldung ist Umverteilung. Staatsverschuldung verhindert Zukunftsinvestitionen. Eine wachsende Staatsverschuldung erhöht die Abhängigkeit von Kapitalmärkten. Das heißt, wenn wir den Primat der Politik reden, dann darf man die Nettoneuverschuldung nicht erhöhen, man muss sie senken.

CDU/CSU und FDP haben ihren Nimbus als Sachwalter der Steuerzahler durch einen soliden Umgang mit den Staatsfinanzen längst verloren, über die dämlichen Steuerprivilegierungen, ausgerechnet über eine Steuersenkung, die die Staatsverschuldung um 6 bis 8 Milliarden erhöht, worauf wir zusätzliche 180 Millionen Euro Zinsen zahlen müssen.

Dann treten wir in Europa als Schulmeister gegenüber den anderen Ländern auf und sagen: Ihr müsst mal Haushaltskonsolidierung betreiben!

Wir brauchen einen gesetzlichen Mindestlohn.

Dieser Mindestlohn muss so hoch sein, dass man vollbeschäftigt davon leben kann. Ich füge hinzu: Wer sein Geschäftsmodell auf Niedrig- und Niedrigstlöhnen aufbaut, hat kein Geschäftsmodell.

Der erste Teil des folgenden Satzes mag euch befremden; aber hört den zweiten Teil auch an: Ich habe prinzipiell nichts gegen Leiharbeit, wenn, ja wenn und soweit sie der freien beruflichen Planung des Einzelnen entspricht und bestimmte Auftragsspitzen von Unternehmen abfedert. Aber Tatsache ist, dass inzwischen zu viel Zug in den Kamin gekommen ist, worüber die Spaltung des Arbeitsmarktes angeheizt wird.

Es kann nicht sein, dass Stammbelegschaften und Zeitarbeiter in ein und demselben Betrieb für die gleiche Arbeit unterschiedlich bezahlt werden.

Das Prinzip "gleicher Lohn für gleiche Arbeit" ist nicht nur eine Frage der sozialen Gerechtigkeit, sondern, ich glaube, darüber hinaus auch des sozialen Friedens. Auch die Arbeitgeber können den Spaltpilz von Lohnungerechtigkeit, der über den Arbeitsmarkt hinaus in eine Gesellschaft wuchert, nicht begrüßen, nicht akzeptieren. Das ist der Grund, warum ich übrigens beim Bundesverband der deutschen Arbeitgeber vor drei Wochen genauso geredet habe wie gerade jetzt.
Equal Pay, gleiche Bezahlung für gleiche Arbeit, gilt auch für Frauen und Männer.

In Deutschland sind die Bruttolöhne von Frauen um über 23 % niedriger als die Bruttolöhne im Durchschnitt von Männern. Damit sind wir das zweitschlechteste Land in der Europäischen Union. Der Durchschnitt in der Europäischen Union ist 17 %. Erkennbar kriegen die Frauen weniger, nicht weil sie schlechter qualifiziert sind, sondern nach wie vor durch Diskriminierungsmechanismen in diesen Unternehmen.

Das können wir uns nicht leisten. Insbesondere können wir uns das nicht leisten mit Blick auf den Fachkräftemangel, der absehbar ist. Ich füge einen Satz hinzu, der mir als Mann sehr schwer fällt: Das ist umso grotesker, weil diese Frauen im Durchschnitt inzwischen bessere schulische, bessere berufliche und bessere akademische Abschlüsse machen als Männer.

Das bestätigen mir meine Töchter im Vergleich zu meinen Abschlüssen.
Deshalb bin ich ganz froh, dass ich mit dieser Generation von Frauen nicht mehr konkurrieren muss.

Ich muss euch nicht lange erzählen, dass das Wohlstandsniveau, dass die Wohlstandsentwicklung der Bundesrepublik Deutschland maßgeblich beruht auf einem starken industriellen Sektor mit hochgradig qualifizierten Arbeitnehmern, mit darauf aufbauenden produktionsorientierten Dienstleistungen und einem sehr wettbewerbsfähigen Mittelstand. Das macht das Rückgrat dieser deutschen Wirtschaft, seine Beschäftigung, seine Ausbildungsplätze, seiner Steuerzahlungen aus.

Wenn das aber so ist, dann muss die SPD der Dienstleister dieses Industriesektors und dieses Mittelstandes sein, und zwar nicht nur in Sonntagsreden, wenn ich bei der Handwerkskammer bin oder bei einem Empfang der IHK, sondern auch über die Woche, und das hat mehrere Aspekte. Dann geht es um die Standortsicherung der deutschen Industrie. Wir dürfen den Prozess der Deindustrialisierung, den Fehler, den andere Länder gemacht haben, bis zum Pionier der industriellen Revolution, Großbritannien, nicht nachvollziehen. Wir müssen diesen Bereich halten.

Das wird dann aber sehr konkret, wie ihr wisst, sehr konkret bei der Bereitstellung von Infrastruktur für Kommunikation, für Transport, Verkehr, Energie. Das wird sehr konkret mit Blick auf die Frage, ob wir nicht endlich ein Rohstoffversorgungskonzept für diese deutsche Industrie brauchen. Das wird sehr konkret bei der Fragestellung der Planbarkeit und Dauer von Genehmigungsverfahren. Und es wird sehr konkret mit Blick auf die Fragestellung, wie wir denn Realkapitalinvestition besteuern und wie wir bloße Kapitalanlagen besteuern.

Da steckt Musik drin. Dort entscheidet sich ein Kompetenzvergleich mit politischen Wettbewerbern. Und dort mag es auch die eine oder andere Differenz und notwendige Abgrenzung gegenüber den Grünen geben.
Mir ist allerdings auch ein Punkt im Steuerkonzept der Grünen aufgefallen, der hochinteressant ist: Sie tragen dafür Sorge, dass ihre Vermögensabgabe als eine Belastung der Substanz gerade kleiner und mittlerer Unternehmen nie den ganzen Gewinn wegnimmt und bei keinem Gewinn nicht zur Illiquidität führt.

Zum Schluss, liebe Genossinnen und Genossen: Wir müssen dem Versuch widerstehen, mehr zu versprechen, als wir halten können. Es war einer der Kernsätze der Rede gestern bei Sigmar. Dem stimme ich uneingeschränkt zu.

Die einzige Passage, Sigmar, in der ich mich nicht ganz wiedergefunden habe, war als Du einen sehr kalten Hauch des bloßen Pragmatismus verbreitet hast. Es ging nie um einen kalten Pragmatismus, sondern es geht um einen Pragmatismus aus sittlicher Überzeugung. Das ist etwas anders, das ist mehr.

Aber noch einmal zurück. Wir müssen der Versuchung widerstehen, den Menschen mehr zu versprechen, als wir halten können. Denn das gelegentlich zu große Wort legt den Kern der Unerreichbarkeit und schafft Verdruss bei denjenigen, die sich hinter uns versammeln wollen und die sich mit uns auf einen Weg machen wollen, aber die möglicherweise dann das Ziel gar nicht mehr erkennen oder das Ziel für unerreichbar halten. Das kann Glaubwürdigkeit zerstören. Ja, wir streben nach einer gerechten Gesellschaft.
Aber so wie ein Steuermann, so wie ein Navigator den Nordstern als Fixstern hat und ihn nicht erreichen wird, so orientieren wir uns an dem Fixstern einer gerechten Gesellschaft.

Wir wissen aber gleichzeitig, dass Politik ein immerwährender Prozess ist und niemals zum Stillstand kommt. Wir werden nie angekommen sein, aber die SPD wird immer unterwegs sein.

Stillstand ist Rückschritt. Wir müssen die Avantgarde sein, und da, wo wir noch nicht an der Spitze sind, müssen wir hin.

Wer nach einer freien, wenn nach einer gerechten Gesellschaft strebt, der muss für den Primat der Politik sein. Ohne Primat der Politik wir es keine gerechte Gesellschaft geben.

Das Volk und die es vertretende Abgeordneten, sie bestimmen, wohin die Reise geht, niemand sonst.

Dafür stehe ich. Dafür stehe ich mit euch gemeinsam. Die SPD hat nicht 150 Jahre für eine freie und gerechte Gesellschaft gekämpft, um sie jetzt in der Krise verloren zu geben. Das Volk ist der Souverän und nicht der Markt, geschweige denn Marktakteure, die inzwischen ganze Volkswirtschaften in Grund und Boden spekuliert haben. Der Weg aus dieser Krise ist weder politisch noch ökonomisch ein Spaziergang, wie ihr wisst. Ich weiß, wir müssen zurück. Wir müssen zurück zu einer sozialen Marktwirtschaft, die ihrem Namen wieder gerecht wird, einer Marktwirtschaft, für die der alte Satz von Karl Schiller nach wie vor durchaus eine Wegweisung gibt, der da lautete: So viel Markt wie möglich und so viel Staat wie nötig. Wir, die SPD, müssen die soziale Marktwirtschaft gegen Frau Merkel aus der Partei von Ludwig Erhard zurückerobern. Das ist die Ironie der Geschichte.

Wir werden über Steine gehen müssen. Aber wir sind Sozialdemokraten. Wir werden nicht stehen bleiben. Das Entscheidende ist: Wir gehen zusammen.

Vielen Dank.


Sozialdemokratische Partei Deutschlands Parteivorstand Wilhelmstraße 141, 10963 Berlin Telefon (030) 25991-300, FAX (030) 25991-507
Herausgeberin: Andrea Nahles
Redaktion: Tobias Dünow
e-mail: pressestelle@spd.de
http://www.spd.de
http://www.meinespd.net/

Über SPD:
(Da unsere Organisationseinheiten auf verschiedene Gebäude verteilt sind, müssen Sie ggf. die genaue Adresse bei der Organisationseinheit erfragen.)
Zukunftsgerecht in Europa

Gerechtigkeit und ein fairer Wettbewerb in einem sozialen Rechtsstaat zeichnen das Zusammenleben in der Europäischen Union aus. Das macht das europäische Sozialstaatsmodell so einzigartig. Es fußt in der europäischen Aufklärung und speist sich aus der europäischen Arbeiterbewegung. Denn im Kern geht es diesem europäische Sozialstaat immer auch um Teilhabe und Mitbestimmung.

Soziale Bürgerrechte, Zugang zu Bildung und gerechte Teilhabe am Wohlstand - dieses Europa ist grundlegend geprägt von der sozialdemokratischen Idee. Diese Grundidee des Sozialstaatmodells wollen wir im Europa der Zukunft beibehalten. Das ist auch der Grundgedanke der Agenda 2010.
....

Firmenkontakt:
Sozialdemokratische Partei Deutschlands Parteivorstand Wilhelmstraße 141, 10963 Berlin Telefon (030) 25991-300, FAX (030) 25991-507
Herausgeberin: Andrea Nahles
Redaktion: Tobias Dünow
e-mail: pressestelle@spd.de
http://www.spd.de
http://www.meinespd.net/

Die Pressemeldung "Rede Peer Steinbrück auf dem SPD-Bundesparteitag" unterliegt dem Urheberrecht der pressrelations GmbH. Jegliche Verwendung dieses Textes, auch auszugsweise, erfordert die vorherige schriftliche Erlaubnis des Autors. Autor der Pressemeldung "Rede Peer Steinbrück auf dem SPD-Bundesparteitag" ist SPD.