Rede von Martin Schulz bei Veranstaltung Reden zu Deutschland und Europa am 19.03.2012
- Pressemitteilung der Firma SPD, 19.03.2012
Pressemitteilung vom: 19.03.2012 von der Firma SPD aus Berlin
Kurzfassung: Rede des Präsidenten des Europäischen Parlaments und EU-Beauftragten des SPD-Parteivorstands Martin Schulz bei der Auftaktveranstaltung zur Reihe "Reden zu Deutschland und Europa" "Europas Wege aus der Krise" am Montag, dem 19. März 2012, im ...
[SPD - 19.03.2012] Rede von Martin Schulz bei Veranstaltung Reden zu Deutschland und Europa am 19.03.2012
Rede
des Präsidenten des Europäischen Parlaments und EU-Beauftragten des SPD-Parteivorstands
Martin Schulz
bei der Auftaktveranstaltung zur Reihe "Reden zu Deutschland und Europa"
"Europas Wege aus der Krise"
am
Montag, dem 19. März 2012,
im Willy-Brandt-Haus in Berlin
- Es gilt das gesprochene Wort -
Ich freue mich sehr, heute bei der Auftaktveranstaltung zu "Reden zu Deutschland und Europa" sprechen zu dürfen. Ich danke Sigmar Gabriel dafür, dass er diese neue Veranstaltungsreihe im Willy-Brandt-Haus aufgelegt hat. Das zeigt, dass die SPD als die Europapartei in Deutschland verstanden hat, wie notwendig die Debatte über die Zukunft Europas im 21. Jahrhundert ist.
Die Veranstaltung ist gut terminiert: Gestern hat Egon Bahr, den ich sehr bewundere, seinen 90. Geburtstag gefeiert. Egon, Dir alles erdenklich Gute zu Deinem Ehrentag. Ich hoffe, Du wirst Dich weiterhin so engagiert in Debatten einbringen, denn Dein Rat ist mehr denn je gefragt. So wie Du zusammen mit Willy Brandt durch die Ostpolitik die Welt sicherer gemacht hast, so wollen wir heute durch die Europäische Einigung den Frieden und Wohlstand auf unserem Kontinent sichern.
Noch nie stand Europa vor so großen Herausforderungen wie heute: Die Wirtschafts- und Schuldenkrise dauert an. Armut und Arbeitslosigkeit wachsen. Die Menschen zweifeln zusehends an der Fähigkeit der Demokratie, drängende Probleme zu lösen, so z.B. den entfesselten Finanzmärkten einen Riegel vorzuschieben.
Aus der Währungs- und Finanzkrise ist mittlerweile eine Vertrauenskrise geworden. Das wiegt schwer, weil damit unser gesamtes Gesellschaftsmodell auf dem Spiel steht.
Diese Vertrauenskrise in Europa vollzieht sich zu einer Zeit, in der wir uns in einem verschärften interkontinentalen Wettbewerb befinden. Andere Weltregionen steigen auf. Europa wird ökonomisch weniger bedeutend.
Deshalb stehen wir heute vor mehreren Paradoxien:
Noch nie haben wir die Europäische Union so sehr gebraucht wie heute, um die genannten Herausforderungen anzugehen. Doch genau wegen der Vertrauenskrise ist zum ersten Mal seit ihrer Gründung ein Scheitern der EU zum realistischen Szenario geworden. Wesentliche Akteure agieren zögerlich und mutlos und sie schielen vor allem auf die Schnelle Schlagzeile zu Hause. Während wir also eigentlich mehr Europa bräuchten, eine Vertiefung der Integration, von der Wirtschafts- und Währungsunion zu einer politischen Union, ist Europa-Bashing in aller Munde. Und während wir voller Stolz unser auf sozialen Ausgleich ausgerichtetes Gesellschaftsmodell, um das uns zahllose Menschen weltweit beneiden, verteidigen sollten, verkündet der EZB-Chef Mario Draghi – wenn ich ihn richtig verstehe – den Tod desselben. Das nenne ich verrückt! Auf diese Paradoxien müssen wir Antworten finden.
Für viele Menschen in Europa sind es harte Zeiten. Ich war gerade in Griechenland. Wer glaubt, dass man dort einen jungen Arbeitslosen oder einen Rentner noch mehr ausquetschen kann, der irrt gewaltig. Haben Sie jüngst die Berichte verfolgt, dass griechische Eltern ihre Kinder in SOS-Kinderdörfer bringen, weil sie diese nicht mehr ernähren können? Das ist eine Schande für unseren Kontinent. Und ich schäme mich dafür.
Für meine Eltern galt noch das Motiv: "Unsere Kinder sollen es einmal besser haben als wir". Und es geht uns besser! Leider können wir das für unsere Kinder nicht mehr mit der gleichen Gewissheit sagen. Im Gefolge der Wirtschaftskrise wachsen Armut und Arbeitslosigkeit. Sieben Millionen junge Menschen haben in Europa heute keinen Job.
In Griechenland und Spanien gar jeder Zweite. Noch Viele mehr stecken in einer Spirale aus
Arbeitslosigkeit, Zeitverträgen und unbezahlten Praktika gefangen; einer Spirale, die allzu oft in Wut oder Resignation mündet. Das ist Gift für unsere Gesellschaften. Eine so hohe Jugendarbeitslosigkeit droht, das soziale Gewebe einer ganzen Gesellschaft zu zerstören!
Deshalb verstehe ich die Menschen, die auf Europas Straßen gegen ein Wirtschaftssystem protestieren, in dem einige Wenige die Gewinne einstreichen und die Verluste der Allgemeinheit aufgebürdet werden. Ein System, in dem sich der Eindruck aufdrängt, anonyme Rating-Agenturen in New York seien mächtiger als demokratisch gewählte Regierungen und Parlamente.
Aber bitter – nicht nur für mich: Die EU wird mehr und mehr als Teil des Problems und nicht als Teil der Lösung gesehen. Das liegt nicht zuletzt an den Regierungschefs, die sich seit Jahren alle von der EU erzielten Erfolge auf die eigene, die nationale Fahne schreiben und alle Misserfolge Brüssel in die Schuhe schieben.
Ein aktuelles Beispiel gefällig? "Europa scheitert bei der Einführung der Finanztransaktionssteuer", lauteten viele Schlagzeilen nach dem letzten Rat der Finanzminister, genannt ECOFIN. Aber wer war da eigentlich gescheitert? Denn das Europäische Parlament und die EU-Kommission waren sich einig, dass die Finanztransaktionsteuer, die eine wichtige Gerechtigkeitslücke schließt, eingeführt werden muss. Aber England, die Niederlande, Schweden und eine uneinige Bundesregierung haben genau das verhindert. Diese Regierungschefs sind gescheitert – nicht die EU!
Oder ein anderes Beispiel: Da erklärt der frühere portugiesische Ministerpräsident José Sócrates, "nein, man brauche keine Hilfe", um dann Stunden später unter den Rettungsschirm zu flüchten. Da verweist der irische Präsident Brian Cowen noch auf angeblich erfolgreiche Stresstests, um dann umgehend ein 80 Milliarden Euro schweres Rettungspaket in Anspruch zu nehmen. Da spielt die Bundeskanzlerin immer erst die nationale Karte, um dann eine unhaltbare Position nach der anderen im Drei-Monats-Rhythmus doch zögerlich aufzugeben. So kann man kein Vertrauen aufbauen!
Seit Monaten hetzt die Union von einem Krisengipfel zum nächsten. Entscheidungen, die uns alle betreffen, werden von Regierungschefs hinter verschlossenen Türen getroffen. Das ist für mich ein Rückfall in einen lange überwunden geglaubten Zustand der europäischen Politik: es erinnert an die Zeit des Wiener Kongresses im 19. Jahrhundert. Damals lautete die Maxime: knallhart nationale Interessen durchdrücken und das ohne demokratische Kontrolle. Der Trend zur "Vergipfelung", die Inflation von Gipfeltreffen hat zum ersten Mal in der Geschichte der EU zu einem "Abbau der Demokratie" geführt, wie Jürgen Habermas es beschreibt.
Ich sage: die Selbstermächtigung des Europäischen Rates führt zur Aushöhlung der Demokratie. Das Europäische Parlament wird weitgehend ausgeschlossen. Im Grunde werden auch die nationalen Parlamentarier dazu degradiert, die intergouvernemental getroffenen Entscheidungen nur mehr durchzuwinken, selbst bei der Königsdisziplin eines jeden Parlaments, dem Haushaltsrecht. Mein Freund Frank-Walter Steinmeier weiß ein Lied davon zu singen.
Beim sogenannten Europäischen Semester schicken die Regierungen ihre Haushaltentwürfe erst nach Brüssel, wo Beamte sie prüfen, bevor nationale Abgeordnete sie zu sehen bekommen. Das Europäische Parlament kann diese Beamten und die Haushaltsentwürfe nicht einmal prüfen. Das ist systematische Entparlamentarisierung, das ist konkreter Demokratieabbau. Das Europa dieser anonymen Entscheidungen zerstört das Vertrauen der Menschen in die Demokratie. Nur wenn Menschen nachvollziehen können, von wem, wo, wann, welche Entscheidungen getroffen werden, kann verloren gegangenes Vertrauen in die Politik zurück gewonnen werden. Und auch nur, wenn Alternativen zu einer politischen Entscheidung deutlich sind, haben wir es mit demokratischer Politik zu tun. Sage niemand, dass das, was die mehrheitlich konservativen Staats- und Regierungschefs in den letzten 2 Jahren Krisenbekämpfung nennen, ohne Alternative wäre! Natürlich gibt es eine Alternative – eine bessere sogar!
Meine zweieinhalbjährige Amtszeit als Präsident will ich deshalb dafür nutzen, das Parlament als Ort der kontroversen Auseinandersetzung über die Richtung der Politik in der EU sichtbarer zu machen. Wenn es nötig ist, auch im Konflikt mit den Staats- und Regierungschefs. Ich will den Bürgerinnen und Bürgern mehr Gehör schenken. Ihre Stimme in Europa stärken. Deshalb habe ich am Tag 1 meiner Präsidentschaft den ungarischen Regierungschef Orban ins Europäische Parlament eingeladen, damit er sich dort einer Opposition stellen musste, die er in seiner nationalen Kammer kaum noch kennt. Das war eine feurige Debatte.
Mehr Europa geht nur mit mehr Demokratie! Gleichzeitig gilt in Zeiten einer interdependenten Welt, in Zeiten übermächtiger globaler Finanzmärkte aber auch: Mehr Demokratie geht nur mit mehr Europa! Wir wollen schließlich keine marktkonforme Demokratie - Wir wollen einen demokratiekonformen Markt.
Zurückgewinnen kann die Politik diese – auf der nationalen Ebene längst verlorene – Handlungsmacht nur durch die Bündelung von Souveränität auf der europäischen Ebene. Souveränität, die Nationalstaaten auf die EU übertragen, ist eben nicht - wie uns Euroskeptiker weismachen wollen - verlorene Souveränität sondern zurück gewonnene Gestaltungsmacht.
Nach der Krise, ist vor der Krise. Drei Jahre nachdem Spekulanten die Welt in die schlimmste Finanzkrise seit 80 Jahren stürzten, wird schon wieder munter gezockt. Die Banker sind nicht nur zum "business as usual" sondern auch zum "profit as usual" zurückgekehrt. Hohe Gehälter und Bonus-Zahlungen winken und verleiten viele Finanzjongleure wieder zu hochriskanten Deals. Erst in den letzten Tagen versuchten Hedge-Fonds mit Kreditausfallversicherungen Milliarden durch die Spekulation gegen den Verbleib Griechenlands in der Euro-Zone einzustreichen.
Nach der Krise ist vor der Krise. Das heißt auch: jetzt müssen wir die effektive Kontrolle der Finanzmärkte durchsetzen. Nur so können wir unsere politische Zukunft aus dem Würgegriff der Spekulanten befreien. Nur so können wir eine Wiederholung der Krise verhindern.
Das Europäische Parlament, erlauben Sie mir diesen Verweis bitte, hat im Gegensatz zu vielen, die nur darüber geredet haben, gehandelt: Wir haben Gesetze zur Regulierung von Rating-Agenturen, zur Banken-Aufsicht, zur Einlagensicherheit, zu höherem Eigenkapital von Banken und zum Derivatehandel gemacht. Auch das Zocken mit Kreditausfallversicherungen, wie es Hedge-Fonds unlängst noch gegen Griechenland unternahmen, wird Dank des Europäischen Parlaments bald nicht mehr möglich sein.
Ein Versprechen, das auf dem Höhepunkt der Krise gegeben wurde, lautete: die Verursacher an den Kosten zu beteiligen. Das ist eine Frage der sozialen Gerechtigkeit. Wer soll das denn noch verstehen, wenn die Verursacher der Krise mit Milliardengewinnen in den Taschen davon kommen, und die Bürger die Zeche für die Spekulanten zahlen. Deshalb brauchen wir die Finanztransaktionssteuer! Das ist eine Frage der Gerechtigkeit! Ganz abgesehen von den dringend benötigten Milliarden für die Steuerkassen und der disziplinierenden Wirkung für besonders riskante Spekulationen, die diese Steuer quasi nebenbei noch bringt.
Es erstaunt mich schon, dass Frau Merkel sich in Deutschland als mächtigste Frau Europas feiern lässt, die eine harte Sparpolitik gegen alle Widerstände durchsetzen kann. Dass aber genau diese Frau immer wieder scheitert, wenn es um die gerechte Verteilung der Lasten oder um die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit geht. Ist Frau Merkel so ohnmächtig wie es scheint, oder will sie im Schulterschluss mit anderen konservativen Regierungschefs die Finanztransaktionssteuer verhindern? Das ist eine Frage, zu der ich gern einmal intensive Recherchen in den Zeitungen lesen würde.
Neben der Regulierung der Finanzmärkte, gibt es einen weiteren Punkt, den wir dringend anpacken müssen: eine Wachstumsinitiative für Europa.
Wie gesagt: Vor drei Wochen war ich in Athen. Selten hat mich ein Besuch so sehr bewegt, wie dieser. Griechenland steckt in einer tiefen Rezession. Die Arbeitslosigkeit hat 20 Prozent erreicht und sie soll weiter steigen. Nach den großen Opfern, die von den Menschen in Griechenland zum Schuldenabbau erbracht wurden, muss aus Brüssel jetzt ein Hoffnungssignal kommen: Griechenland braucht eine Wachstumsinitiative!
Zu lange hat sich das Krisenmanagement zu einseitig auf die Sparpolitik versteift. Die Sparschraube wurde immer enger gedreht, die Armut und die Jobmisere dadurch immer weiter verschlimmert. Lasst uns deshalb aufpassen, dass wir uns mit einer reinen Austeritätspolitik nicht zu Tode sparen. Denn die Wirtschaft wird so regelrecht erdrosselt. Die mantrahaft vorgetragene Forderung im Europäischen Rat nach der Schuldenbremse als Allheilmittel erinnert mich an den Spruch eines weisen Mannes: "Wenn das einzige Werkzeug, das man in seinem Werkzeugkasten hat, ein Hammer ist, dann sieht jedes Problem wie ein Nagel aus."
Denn so unumgänglich die Reduzierung der Staatsdefizite ist - das ist eine Frage der Generationen-Gerechtigkeit, dass wir unseren Kindern nicht nur den Hypothekenkredit anstatt das dazugehörige Haus vererben - so ehrlich muss man auch sein, einzusehen, dass wir mit diesen Kürzungsorgien kein Wachstum schaffen. Ohne Wachstum werden aber die Länder, die in einer Schuldenkrise stecken, ihre Schulden kaum bedienen können.
Deshalb muss jetzt nach dem ersten Schritt, der Sparpolitik, ein zweiter folgen: die Wachstumspolitik. Wir brauchen ein Aufbauprogramm für Südeuropa, aus europäischen Mittel, die schon längst beschlossen sind. Eine Art Marshall-Plan, der beim Ausbau von z.B. erneuerbaren Energien hilft, durch die die klimatisch geeigneten Südländer eine ökonomische Perspektive und die EU insgesamt mehr Unabhängigkeit vom teuren Öl und Gas bekommen. Für dieses Wachstumspaket streite ich auch, weil hierdurch die Wahrscheinlichkeit erhöht wird, dass sich die "Schuldenländer" wieder selbst aus dem Sumpf ziehen können, weil sie nachhaltiges Wachstum erzeugen, von dem ganz Europa profitiert. Warum finden die Europäischen Staats- und Regierungschefs nicht die Kraft dafür?
Die SPD hat bewiesen, dass sie ihrer Verantwortung für Deutschland und Europa nachkommt. Anstelle von taktischen Oppositionsspielchen haben wir im Bundestag die Rettungspakete mitgetragen, die zur Stabilisierung der Euro-Zone notwendig waren. Wir werden auch den Fiskalpakt mittragen, wenn die Bundesregierung das tut, was in einer Situation, in der sie unsere Stimmen brauchen, normal ist: Die Bundesregierung muss endlich auf die Opposition zugehen und die Forderungen aufgreifen und verhandeln, die von uns eingebracht worden sind: Wir wollen 1. die Finanztransaktionssteuer, 2. ein Wachstumspaket für Europa und 3. die demokratische Teilhabe an den Fiskalpaktgesprächen durch das Europäische Parlament. Ich rate der Bundeskanzlerin dringend auf dieses Angebot einzugehen.
Ich habe eine weitere Sorge, im Zusammenhang mit der derzeitigen Krise: Durch rückwärtsgewandte Renationalisierungsdebatten werden nationale Egoismen befeuert. Stereotypen, Vorurteile und gar Feindbilder sind in vielen Teilen Europas wieder auf dem Vormarsch. Diejenigen, die in den letzten Jahren mit ihrer chauvinistischen und pauschalen Islam-Kritik Schlagzeilen gemacht haben, haben den Kampf gegen den Islam nun durch den Kampf gegen Europa ersetzt.
Die größte Gefahr droht, weil manch abstruse These bereits in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist: Ich bin empört, dass es Zeitungen in Griechenland gibt, die Mitglieder der deutschen Bundesregierung in Nazi-Uniformen abgebildet haben. Das habe ich auch den Kollegen im griechischen Parlament deutlich gesagt.
Ich bin aber auch darüber entsetzt, dass es Politiker und Medien in Deutschland gibt, die in besserwisserischer Manier über andere Völker sprechen. Von angeblich faulen Südländern ist da die Rede. "In Europa wird jetzt deutsch gesprochen", heißt es da.
So wird das nicht gehen!
Dass es wieder möglich ist, Minderheiten auszugrenzen, gegen Roma zu hetzen, Arbeitnehmer aus Osteuropa zu diskriminieren, mit der Schließung von Binnengrenzen Wahlkampf zu machen – das entsetzt mich. Und dass Frau Merkel bei diesem rechtspopulistischen Wahlkampf von Herrn Sarkozy sogar noch mitmacht, ist fatal!
Niemals hätte ich mir vorstellen können, dass diese lange gebannt geglaubten Dämonen wiederkehren. Doch tumber Populismus gewinnt wieder an Boden. In vielen Mitgliedsstaaten sind rechtsextreme Parteien auf dem Vormarsch: Geert Wilders Freiheitspartei in den Niederlanden. Jobbik in Ungarn. Die Front National in Frankreich. Und wir lassen sie gewähren. Für den Sieg des Bösen reicht die Untätigkeit der Guten, sagte Edmund Burke. Freiheit und Demokratie müssen jeden Tag aufs Neue verteidigt werden.
Wir alle müssen einschreiten gegen die Rückkehr von Denkweisen, die immer nur Unglück über die Völker Europas gebracht haben. Denkweisen, die auch die EU zu sprengen vermögen.
Ich will hier nicht pessimistisch enden. Denn es ist etwas Positives in den letzten Monate erwachsen: Wir haben angefangen uns mehr dafür zu interessieren, was in unseren Nachbarstaaten passiert. Plötzlich reden wir darüber, wann Menschen woanders in Rente gehen, über die Jugendarbeitslosigkeit in anderen Staaten und was das mit uns zu tun hat. Das hat uns schon ein bisschen mehr europäische Öffentlichkeit gebracht.
Genauso wie das umstrittene ACTA-Abkommen über Urheberrechte. Dazu gibt es eine rege Debatte im Netz. 2,5 Millionen Menschen haben eine Petition an das Europäische Parlament unterschrieben. Das hat mich beeindruckt. Und es hat mir auch gezeigt, dass sich das Europäische Parlament immer mehr zum Ort der Debatte über politische Entscheidungen in der EU etabliert. Als Ort, an dem den Sorgen der Menschen Gehör geschenkt wird. Wir wollen ihnen zuhören, das verspreche ich.
Deshalb lassen Sie mich folgende 6 Punkte zusammenfassen:
1. Lasst uns unser Europa, um das uns Millionen von Menschen weltweit beneiden, nicht zerreden. Ich möchte, dass wir unser spezifisches, auf Freiheit und sozialen Ausgleich angelegtes Gesellschaftsmodell, in den Stürmen der Globalisierung verteidigen.
2. Lasst uns nicht um der schnellen Schlagzeile willen, in dumme Renationalisierung verfallen. Denn jeder weiß, dass wir als einzelne europäische Staaten im Wettbewerb mit den aufstrebenden Mächten des 21. Jahrhunderts in der Bedeutungslosigkeit verschwinden werden. Nur die europäische Solidarität ermöglicht die Verteidigung unseres Lebensstils.
3. Lasst uns gemeinsame Verantwortung füreinander übernehmen. Es ist nicht gesund, wenn die hohen Zinsen bei einigen Nachbarstaaten zu negativen Zinsen für die Bundesrepublik Deutschland führen – negative Zinsen heißt, dass derjenige, der uns Geld leiht, uns dafür noch Geld anbietet und nicht etwa Zinsen verlangt. Eurobonds sind ein wichtiges Instrument, um zu einer gesünderen Finanzierung in Europa zu kommen.
4. Lasst uns endlich die längst überfällige Finanztransaktionssteuer einführen. Es kann nicht ein, dass eine deutsche Bundeskanzlerin diese Steuer einführen möchte, dass sie aber gleichzeitig diese Forderung nur als ihre "Privatmeinung" deklariert, damit sie ihre fragile Koalition in Berlin retten kann. Nein, wir brauchen diese Steuer jetzt, um die notwendigen Wachstumsimpulse zu setzen und wir können es uns nicht erlauben, dass eine kleine Regierungspartei in ihrer Agonie ganz Europa bremst.
5. Lasst uns ein Investitionsprogramm für Südeuropa aufsetzen, durch das wir in nachhaltige Energien und die notwenige Infrastruktur investieren und durch das wir den gut ausgebildeten jungen Leuten in Südeuropa eine Perspektive in ihren Heimatländern geben. Dieses Investitionsprogramm muss der Nukleus einer erweiterten europäischen Industriepolitik sein!
6. Lasst uns unabhängiger machen von den US-amerikanischen Rating-Agenturen, die nicht zögern, europäische Länder, hinter denen die gesamte EU steht, auf Ramschniveau eines Entwicklungslandes zu setzen.
Deshalb sage ich: Wir brauchen Europa, aber wir brauchen ein anderes Europa. Darüber müssen wir sprechen, diskutieren und streiten. Denn nicht jeder, der daran zweifelt, ob das Alles so richtig ist, was da in Brüssel entschieden und gemacht wird, ist ein Anti-Europäer.
Europa ist eine großartige Idee. Aber diese Idee ist unter die Räder gekommen. Ich will, dass wir den Kern dieser Idee wieder finden, ihn putzen und ihn wieder zum Strahlen bringen.
Darüber brauchen wir eine ehrliche Auseinandersetzung und ich danke Sigmar Gabriel und dem Willy-Brandt-Haus, dass sie mit dieser Veranstaltungsreihe dafür ein Forum bietet.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Sozialdemokratische Partei Deutschlands Parteivorstand Wilhelmstraße 141, 10963 Berlin Telefon (030) 25991-300, FAX (030) 25991-507
Herausgeberin: Andrea Nahles
Redaktion: Tobias Dünow
e-mail: pressestelle@spd.de
http://www.spd.de
Rede
des Präsidenten des Europäischen Parlaments und EU-Beauftragten des SPD-Parteivorstands
Martin Schulz
bei der Auftaktveranstaltung zur Reihe "Reden zu Deutschland und Europa"
"Europas Wege aus der Krise"
am
Montag, dem 19. März 2012,
im Willy-Brandt-Haus in Berlin
- Es gilt das gesprochene Wort -
Ich freue mich sehr, heute bei der Auftaktveranstaltung zu "Reden zu Deutschland und Europa" sprechen zu dürfen. Ich danke Sigmar Gabriel dafür, dass er diese neue Veranstaltungsreihe im Willy-Brandt-Haus aufgelegt hat. Das zeigt, dass die SPD als die Europapartei in Deutschland verstanden hat, wie notwendig die Debatte über die Zukunft Europas im 21. Jahrhundert ist.
Die Veranstaltung ist gut terminiert: Gestern hat Egon Bahr, den ich sehr bewundere, seinen 90. Geburtstag gefeiert. Egon, Dir alles erdenklich Gute zu Deinem Ehrentag. Ich hoffe, Du wirst Dich weiterhin so engagiert in Debatten einbringen, denn Dein Rat ist mehr denn je gefragt. So wie Du zusammen mit Willy Brandt durch die Ostpolitik die Welt sicherer gemacht hast, so wollen wir heute durch die Europäische Einigung den Frieden und Wohlstand auf unserem Kontinent sichern.
Noch nie stand Europa vor so großen Herausforderungen wie heute: Die Wirtschafts- und Schuldenkrise dauert an. Armut und Arbeitslosigkeit wachsen. Die Menschen zweifeln zusehends an der Fähigkeit der Demokratie, drängende Probleme zu lösen, so z.B. den entfesselten Finanzmärkten einen Riegel vorzuschieben.
Aus der Währungs- und Finanzkrise ist mittlerweile eine Vertrauenskrise geworden. Das wiegt schwer, weil damit unser gesamtes Gesellschaftsmodell auf dem Spiel steht.
Diese Vertrauenskrise in Europa vollzieht sich zu einer Zeit, in der wir uns in einem verschärften interkontinentalen Wettbewerb befinden. Andere Weltregionen steigen auf. Europa wird ökonomisch weniger bedeutend.
Deshalb stehen wir heute vor mehreren Paradoxien:
Noch nie haben wir die Europäische Union so sehr gebraucht wie heute, um die genannten Herausforderungen anzugehen. Doch genau wegen der Vertrauenskrise ist zum ersten Mal seit ihrer Gründung ein Scheitern der EU zum realistischen Szenario geworden. Wesentliche Akteure agieren zögerlich und mutlos und sie schielen vor allem auf die Schnelle Schlagzeile zu Hause. Während wir also eigentlich mehr Europa bräuchten, eine Vertiefung der Integration, von der Wirtschafts- und Währungsunion zu einer politischen Union, ist Europa-Bashing in aller Munde. Und während wir voller Stolz unser auf sozialen Ausgleich ausgerichtetes Gesellschaftsmodell, um das uns zahllose Menschen weltweit beneiden, verteidigen sollten, verkündet der EZB-Chef Mario Draghi – wenn ich ihn richtig verstehe – den Tod desselben. Das nenne ich verrückt! Auf diese Paradoxien müssen wir Antworten finden.
Für viele Menschen in Europa sind es harte Zeiten. Ich war gerade in Griechenland. Wer glaubt, dass man dort einen jungen Arbeitslosen oder einen Rentner noch mehr ausquetschen kann, der irrt gewaltig. Haben Sie jüngst die Berichte verfolgt, dass griechische Eltern ihre Kinder in SOS-Kinderdörfer bringen, weil sie diese nicht mehr ernähren können? Das ist eine Schande für unseren Kontinent. Und ich schäme mich dafür.
Für meine Eltern galt noch das Motiv: "Unsere Kinder sollen es einmal besser haben als wir". Und es geht uns besser! Leider können wir das für unsere Kinder nicht mehr mit der gleichen Gewissheit sagen. Im Gefolge der Wirtschaftskrise wachsen Armut und Arbeitslosigkeit. Sieben Millionen junge Menschen haben in Europa heute keinen Job.
In Griechenland und Spanien gar jeder Zweite. Noch Viele mehr stecken in einer Spirale aus
Arbeitslosigkeit, Zeitverträgen und unbezahlten Praktika gefangen; einer Spirale, die allzu oft in Wut oder Resignation mündet. Das ist Gift für unsere Gesellschaften. Eine so hohe Jugendarbeitslosigkeit droht, das soziale Gewebe einer ganzen Gesellschaft zu zerstören!
Deshalb verstehe ich die Menschen, die auf Europas Straßen gegen ein Wirtschaftssystem protestieren, in dem einige Wenige die Gewinne einstreichen und die Verluste der Allgemeinheit aufgebürdet werden. Ein System, in dem sich der Eindruck aufdrängt, anonyme Rating-Agenturen in New York seien mächtiger als demokratisch gewählte Regierungen und Parlamente.
Aber bitter – nicht nur für mich: Die EU wird mehr und mehr als Teil des Problems und nicht als Teil der Lösung gesehen. Das liegt nicht zuletzt an den Regierungschefs, die sich seit Jahren alle von der EU erzielten Erfolge auf die eigene, die nationale Fahne schreiben und alle Misserfolge Brüssel in die Schuhe schieben.
Ein aktuelles Beispiel gefällig? "Europa scheitert bei der Einführung der Finanztransaktionssteuer", lauteten viele Schlagzeilen nach dem letzten Rat der Finanzminister, genannt ECOFIN. Aber wer war da eigentlich gescheitert? Denn das Europäische Parlament und die EU-Kommission waren sich einig, dass die Finanztransaktionsteuer, die eine wichtige Gerechtigkeitslücke schließt, eingeführt werden muss. Aber England, die Niederlande, Schweden und eine uneinige Bundesregierung haben genau das verhindert. Diese Regierungschefs sind gescheitert – nicht die EU!
Oder ein anderes Beispiel: Da erklärt der frühere portugiesische Ministerpräsident José Sócrates, "nein, man brauche keine Hilfe", um dann Stunden später unter den Rettungsschirm zu flüchten. Da verweist der irische Präsident Brian Cowen noch auf angeblich erfolgreiche Stresstests, um dann umgehend ein 80 Milliarden Euro schweres Rettungspaket in Anspruch zu nehmen. Da spielt die Bundeskanzlerin immer erst die nationale Karte, um dann eine unhaltbare Position nach der anderen im Drei-Monats-Rhythmus doch zögerlich aufzugeben. So kann man kein Vertrauen aufbauen!
Seit Monaten hetzt die Union von einem Krisengipfel zum nächsten. Entscheidungen, die uns alle betreffen, werden von Regierungschefs hinter verschlossenen Türen getroffen. Das ist für mich ein Rückfall in einen lange überwunden geglaubten Zustand der europäischen Politik: es erinnert an die Zeit des Wiener Kongresses im 19. Jahrhundert. Damals lautete die Maxime: knallhart nationale Interessen durchdrücken und das ohne demokratische Kontrolle. Der Trend zur "Vergipfelung", die Inflation von Gipfeltreffen hat zum ersten Mal in der Geschichte der EU zu einem "Abbau der Demokratie" geführt, wie Jürgen Habermas es beschreibt.
Ich sage: die Selbstermächtigung des Europäischen Rates führt zur Aushöhlung der Demokratie. Das Europäische Parlament wird weitgehend ausgeschlossen. Im Grunde werden auch die nationalen Parlamentarier dazu degradiert, die intergouvernemental getroffenen Entscheidungen nur mehr durchzuwinken, selbst bei der Königsdisziplin eines jeden Parlaments, dem Haushaltsrecht. Mein Freund Frank-Walter Steinmeier weiß ein Lied davon zu singen.
Beim sogenannten Europäischen Semester schicken die Regierungen ihre Haushaltentwürfe erst nach Brüssel, wo Beamte sie prüfen, bevor nationale Abgeordnete sie zu sehen bekommen. Das Europäische Parlament kann diese Beamten und die Haushaltsentwürfe nicht einmal prüfen. Das ist systematische Entparlamentarisierung, das ist konkreter Demokratieabbau. Das Europa dieser anonymen Entscheidungen zerstört das Vertrauen der Menschen in die Demokratie. Nur wenn Menschen nachvollziehen können, von wem, wo, wann, welche Entscheidungen getroffen werden, kann verloren gegangenes Vertrauen in die Politik zurück gewonnen werden. Und auch nur, wenn Alternativen zu einer politischen Entscheidung deutlich sind, haben wir es mit demokratischer Politik zu tun. Sage niemand, dass das, was die mehrheitlich konservativen Staats- und Regierungschefs in den letzten 2 Jahren Krisenbekämpfung nennen, ohne Alternative wäre! Natürlich gibt es eine Alternative – eine bessere sogar!
Meine zweieinhalbjährige Amtszeit als Präsident will ich deshalb dafür nutzen, das Parlament als Ort der kontroversen Auseinandersetzung über die Richtung der Politik in der EU sichtbarer zu machen. Wenn es nötig ist, auch im Konflikt mit den Staats- und Regierungschefs. Ich will den Bürgerinnen und Bürgern mehr Gehör schenken. Ihre Stimme in Europa stärken. Deshalb habe ich am Tag 1 meiner Präsidentschaft den ungarischen Regierungschef Orban ins Europäische Parlament eingeladen, damit er sich dort einer Opposition stellen musste, die er in seiner nationalen Kammer kaum noch kennt. Das war eine feurige Debatte.
Mehr Europa geht nur mit mehr Demokratie! Gleichzeitig gilt in Zeiten einer interdependenten Welt, in Zeiten übermächtiger globaler Finanzmärkte aber auch: Mehr Demokratie geht nur mit mehr Europa! Wir wollen schließlich keine marktkonforme Demokratie - Wir wollen einen demokratiekonformen Markt.
Zurückgewinnen kann die Politik diese – auf der nationalen Ebene längst verlorene – Handlungsmacht nur durch die Bündelung von Souveränität auf der europäischen Ebene. Souveränität, die Nationalstaaten auf die EU übertragen, ist eben nicht - wie uns Euroskeptiker weismachen wollen - verlorene Souveränität sondern zurück gewonnene Gestaltungsmacht.
Nach der Krise, ist vor der Krise. Drei Jahre nachdem Spekulanten die Welt in die schlimmste Finanzkrise seit 80 Jahren stürzten, wird schon wieder munter gezockt. Die Banker sind nicht nur zum "business as usual" sondern auch zum "profit as usual" zurückgekehrt. Hohe Gehälter und Bonus-Zahlungen winken und verleiten viele Finanzjongleure wieder zu hochriskanten Deals. Erst in den letzten Tagen versuchten Hedge-Fonds mit Kreditausfallversicherungen Milliarden durch die Spekulation gegen den Verbleib Griechenlands in der Euro-Zone einzustreichen.
Nach der Krise ist vor der Krise. Das heißt auch: jetzt müssen wir die effektive Kontrolle der Finanzmärkte durchsetzen. Nur so können wir unsere politische Zukunft aus dem Würgegriff der Spekulanten befreien. Nur so können wir eine Wiederholung der Krise verhindern.
Das Europäische Parlament, erlauben Sie mir diesen Verweis bitte, hat im Gegensatz zu vielen, die nur darüber geredet haben, gehandelt: Wir haben Gesetze zur Regulierung von Rating-Agenturen, zur Banken-Aufsicht, zur Einlagensicherheit, zu höherem Eigenkapital von Banken und zum Derivatehandel gemacht. Auch das Zocken mit Kreditausfallversicherungen, wie es Hedge-Fonds unlängst noch gegen Griechenland unternahmen, wird Dank des Europäischen Parlaments bald nicht mehr möglich sein.
Ein Versprechen, das auf dem Höhepunkt der Krise gegeben wurde, lautete: die Verursacher an den Kosten zu beteiligen. Das ist eine Frage der sozialen Gerechtigkeit. Wer soll das denn noch verstehen, wenn die Verursacher der Krise mit Milliardengewinnen in den Taschen davon kommen, und die Bürger die Zeche für die Spekulanten zahlen. Deshalb brauchen wir die Finanztransaktionssteuer! Das ist eine Frage der Gerechtigkeit! Ganz abgesehen von den dringend benötigten Milliarden für die Steuerkassen und der disziplinierenden Wirkung für besonders riskante Spekulationen, die diese Steuer quasi nebenbei noch bringt.
Es erstaunt mich schon, dass Frau Merkel sich in Deutschland als mächtigste Frau Europas feiern lässt, die eine harte Sparpolitik gegen alle Widerstände durchsetzen kann. Dass aber genau diese Frau immer wieder scheitert, wenn es um die gerechte Verteilung der Lasten oder um die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit geht. Ist Frau Merkel so ohnmächtig wie es scheint, oder will sie im Schulterschluss mit anderen konservativen Regierungschefs die Finanztransaktionssteuer verhindern? Das ist eine Frage, zu der ich gern einmal intensive Recherchen in den Zeitungen lesen würde.
Neben der Regulierung der Finanzmärkte, gibt es einen weiteren Punkt, den wir dringend anpacken müssen: eine Wachstumsinitiative für Europa.
Wie gesagt: Vor drei Wochen war ich in Athen. Selten hat mich ein Besuch so sehr bewegt, wie dieser. Griechenland steckt in einer tiefen Rezession. Die Arbeitslosigkeit hat 20 Prozent erreicht und sie soll weiter steigen. Nach den großen Opfern, die von den Menschen in Griechenland zum Schuldenabbau erbracht wurden, muss aus Brüssel jetzt ein Hoffnungssignal kommen: Griechenland braucht eine Wachstumsinitiative!
Zu lange hat sich das Krisenmanagement zu einseitig auf die Sparpolitik versteift. Die Sparschraube wurde immer enger gedreht, die Armut und die Jobmisere dadurch immer weiter verschlimmert. Lasst uns deshalb aufpassen, dass wir uns mit einer reinen Austeritätspolitik nicht zu Tode sparen. Denn die Wirtschaft wird so regelrecht erdrosselt. Die mantrahaft vorgetragene Forderung im Europäischen Rat nach der Schuldenbremse als Allheilmittel erinnert mich an den Spruch eines weisen Mannes: "Wenn das einzige Werkzeug, das man in seinem Werkzeugkasten hat, ein Hammer ist, dann sieht jedes Problem wie ein Nagel aus."
Denn so unumgänglich die Reduzierung der Staatsdefizite ist - das ist eine Frage der Generationen-Gerechtigkeit, dass wir unseren Kindern nicht nur den Hypothekenkredit anstatt das dazugehörige Haus vererben - so ehrlich muss man auch sein, einzusehen, dass wir mit diesen Kürzungsorgien kein Wachstum schaffen. Ohne Wachstum werden aber die Länder, die in einer Schuldenkrise stecken, ihre Schulden kaum bedienen können.
Deshalb muss jetzt nach dem ersten Schritt, der Sparpolitik, ein zweiter folgen: die Wachstumspolitik. Wir brauchen ein Aufbauprogramm für Südeuropa, aus europäischen Mittel, die schon längst beschlossen sind. Eine Art Marshall-Plan, der beim Ausbau von z.B. erneuerbaren Energien hilft, durch die die klimatisch geeigneten Südländer eine ökonomische Perspektive und die EU insgesamt mehr Unabhängigkeit vom teuren Öl und Gas bekommen. Für dieses Wachstumspaket streite ich auch, weil hierdurch die Wahrscheinlichkeit erhöht wird, dass sich die "Schuldenländer" wieder selbst aus dem Sumpf ziehen können, weil sie nachhaltiges Wachstum erzeugen, von dem ganz Europa profitiert. Warum finden die Europäischen Staats- und Regierungschefs nicht die Kraft dafür?
Die SPD hat bewiesen, dass sie ihrer Verantwortung für Deutschland und Europa nachkommt. Anstelle von taktischen Oppositionsspielchen haben wir im Bundestag die Rettungspakete mitgetragen, die zur Stabilisierung der Euro-Zone notwendig waren. Wir werden auch den Fiskalpakt mittragen, wenn die Bundesregierung das tut, was in einer Situation, in der sie unsere Stimmen brauchen, normal ist: Die Bundesregierung muss endlich auf die Opposition zugehen und die Forderungen aufgreifen und verhandeln, die von uns eingebracht worden sind: Wir wollen 1. die Finanztransaktionssteuer, 2. ein Wachstumspaket für Europa und 3. die demokratische Teilhabe an den Fiskalpaktgesprächen durch das Europäische Parlament. Ich rate der Bundeskanzlerin dringend auf dieses Angebot einzugehen.
Ich habe eine weitere Sorge, im Zusammenhang mit der derzeitigen Krise: Durch rückwärtsgewandte Renationalisierungsdebatten werden nationale Egoismen befeuert. Stereotypen, Vorurteile und gar Feindbilder sind in vielen Teilen Europas wieder auf dem Vormarsch. Diejenigen, die in den letzten Jahren mit ihrer chauvinistischen und pauschalen Islam-Kritik Schlagzeilen gemacht haben, haben den Kampf gegen den Islam nun durch den Kampf gegen Europa ersetzt.
Die größte Gefahr droht, weil manch abstruse These bereits in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist: Ich bin empört, dass es Zeitungen in Griechenland gibt, die Mitglieder der deutschen Bundesregierung in Nazi-Uniformen abgebildet haben. Das habe ich auch den Kollegen im griechischen Parlament deutlich gesagt.
Ich bin aber auch darüber entsetzt, dass es Politiker und Medien in Deutschland gibt, die in besserwisserischer Manier über andere Völker sprechen. Von angeblich faulen Südländern ist da die Rede. "In Europa wird jetzt deutsch gesprochen", heißt es da.
So wird das nicht gehen!
Dass es wieder möglich ist, Minderheiten auszugrenzen, gegen Roma zu hetzen, Arbeitnehmer aus Osteuropa zu diskriminieren, mit der Schließung von Binnengrenzen Wahlkampf zu machen – das entsetzt mich. Und dass Frau Merkel bei diesem rechtspopulistischen Wahlkampf von Herrn Sarkozy sogar noch mitmacht, ist fatal!
Niemals hätte ich mir vorstellen können, dass diese lange gebannt geglaubten Dämonen wiederkehren. Doch tumber Populismus gewinnt wieder an Boden. In vielen Mitgliedsstaaten sind rechtsextreme Parteien auf dem Vormarsch: Geert Wilders Freiheitspartei in den Niederlanden. Jobbik in Ungarn. Die Front National in Frankreich. Und wir lassen sie gewähren. Für den Sieg des Bösen reicht die Untätigkeit der Guten, sagte Edmund Burke. Freiheit und Demokratie müssen jeden Tag aufs Neue verteidigt werden.
Wir alle müssen einschreiten gegen die Rückkehr von Denkweisen, die immer nur Unglück über die Völker Europas gebracht haben. Denkweisen, die auch die EU zu sprengen vermögen.
Ich will hier nicht pessimistisch enden. Denn es ist etwas Positives in den letzten Monate erwachsen: Wir haben angefangen uns mehr dafür zu interessieren, was in unseren Nachbarstaaten passiert. Plötzlich reden wir darüber, wann Menschen woanders in Rente gehen, über die Jugendarbeitslosigkeit in anderen Staaten und was das mit uns zu tun hat. Das hat uns schon ein bisschen mehr europäische Öffentlichkeit gebracht.
Genauso wie das umstrittene ACTA-Abkommen über Urheberrechte. Dazu gibt es eine rege Debatte im Netz. 2,5 Millionen Menschen haben eine Petition an das Europäische Parlament unterschrieben. Das hat mich beeindruckt. Und es hat mir auch gezeigt, dass sich das Europäische Parlament immer mehr zum Ort der Debatte über politische Entscheidungen in der EU etabliert. Als Ort, an dem den Sorgen der Menschen Gehör geschenkt wird. Wir wollen ihnen zuhören, das verspreche ich.
Deshalb lassen Sie mich folgende 6 Punkte zusammenfassen:
1. Lasst uns unser Europa, um das uns Millionen von Menschen weltweit beneiden, nicht zerreden. Ich möchte, dass wir unser spezifisches, auf Freiheit und sozialen Ausgleich angelegtes Gesellschaftsmodell, in den Stürmen der Globalisierung verteidigen.
2. Lasst uns nicht um der schnellen Schlagzeile willen, in dumme Renationalisierung verfallen. Denn jeder weiß, dass wir als einzelne europäische Staaten im Wettbewerb mit den aufstrebenden Mächten des 21. Jahrhunderts in der Bedeutungslosigkeit verschwinden werden. Nur die europäische Solidarität ermöglicht die Verteidigung unseres Lebensstils.
3. Lasst uns gemeinsame Verantwortung füreinander übernehmen. Es ist nicht gesund, wenn die hohen Zinsen bei einigen Nachbarstaaten zu negativen Zinsen für die Bundesrepublik Deutschland führen – negative Zinsen heißt, dass derjenige, der uns Geld leiht, uns dafür noch Geld anbietet und nicht etwa Zinsen verlangt. Eurobonds sind ein wichtiges Instrument, um zu einer gesünderen Finanzierung in Europa zu kommen.
4. Lasst uns endlich die längst überfällige Finanztransaktionssteuer einführen. Es kann nicht ein, dass eine deutsche Bundeskanzlerin diese Steuer einführen möchte, dass sie aber gleichzeitig diese Forderung nur als ihre "Privatmeinung" deklariert, damit sie ihre fragile Koalition in Berlin retten kann. Nein, wir brauchen diese Steuer jetzt, um die notwendigen Wachstumsimpulse zu setzen und wir können es uns nicht erlauben, dass eine kleine Regierungspartei in ihrer Agonie ganz Europa bremst.
5. Lasst uns ein Investitionsprogramm für Südeuropa aufsetzen, durch das wir in nachhaltige Energien und die notwenige Infrastruktur investieren und durch das wir den gut ausgebildeten jungen Leuten in Südeuropa eine Perspektive in ihren Heimatländern geben. Dieses Investitionsprogramm muss der Nukleus einer erweiterten europäischen Industriepolitik sein!
6. Lasst uns unabhängiger machen von den US-amerikanischen Rating-Agenturen, die nicht zögern, europäische Länder, hinter denen die gesamte EU steht, auf Ramschniveau eines Entwicklungslandes zu setzen.
Deshalb sage ich: Wir brauchen Europa, aber wir brauchen ein anderes Europa. Darüber müssen wir sprechen, diskutieren und streiten. Denn nicht jeder, der daran zweifelt, ob das Alles so richtig ist, was da in Brüssel entschieden und gemacht wird, ist ein Anti-Europäer.
Europa ist eine großartige Idee. Aber diese Idee ist unter die Räder gekommen. Ich will, dass wir den Kern dieser Idee wieder finden, ihn putzen und ihn wieder zum Strahlen bringen.
Darüber brauchen wir eine ehrliche Auseinandersetzung und ich danke Sigmar Gabriel und dem Willy-Brandt-Haus, dass sie mit dieser Veranstaltungsreihe dafür ein Forum bietet.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Sozialdemokratische Partei Deutschlands Parteivorstand Wilhelmstraße 141, 10963 Berlin Telefon (030) 25991-300, FAX (030) 25991-507
Herausgeberin: Andrea Nahles
Redaktion: Tobias Dünow
e-mail: pressestelle@spd.de
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Über SPD:
(Da unsere Organisationseinheiten auf verschiedene Gebäude verteilt sind, müssen Sie ggf. die genaue Adresse bei der Organisationseinheit erfragen.)
Zukunftsgerecht in Europa
Gerechtigkeit und ein fairer Wettbewerb in einem sozialen Rechtsstaat zeichnen das Zusammenleben in der Europäischen Union aus. Das macht das europäische Sozialstaatsmodell so einzigartig. Es fußt in der europäischen Aufklärung und speist sich aus der europäischen Arbeiterbewegung. Denn im Kern geht es diesem europäische Sozialstaat immer auch um Teilhabe und Mitbestimmung.
Soziale Bürgerrechte, Zugang zu Bildung und gerechte Teilhabe am Wohlstand - dieses Europa ist grundlegend geprägt von der sozialdemokratischen Idee. Diese Grundidee des Sozialstaatmodells wollen wir im Europa der Zukunft beibehalten. Das ist auch der Grundgedanke der Agenda 2010.
....
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Die Pressemeldung "Rede von Martin Schulz bei Veranstaltung Reden zu Deutschland und Europa am 19.03.2012" unterliegt dem Urheberrecht der pressrelations GmbH. Jegliche Verwendung dieses Textes, auch auszugsweise, erfordert die vorherige schriftliche Erlaubnis des Autors. Autor der Pressemeldung "Rede von Martin Schulz bei Veranstaltung Reden zu Deutschland und Europa am 19.03.2012" ist SPD.