WESTERWELLE-Interview für "Die Zeit

  • Pressemitteilung der Firma FDP-Bundesgeschäftsstelle, 26.04.2012
Pressemitteilung vom: 26.04.2012 von der Firma FDP-Bundesgeschäftsstelle aus

Kurzfassung: Berlin. Das FDP-Präsidiumsmitglied Bundesaußenminister DR. GUIDO WESTERWELLE gab der "Zeit" (heutige Ausgabe) das folgende Interview. Die Fragen stellten MATTHIAS KRUPA und JÖRG LAU. Frage: Herr Westerwelle, 30 Prozent der Wähler in Frankreich ...

[FDP-Bundesgeschäftsstelle - 26.04.2012] WESTERWELLE-Interview für "Die Zeit"


Berlin. Das FDP-Präsidiumsmitglied Bundesaußenminister DR. GUIDO WESTERWELLE gab der "Zeit" (heutige Ausgabe) das folgende Interview. Die Fragen stellten MATTHIAS KRUPA und JÖRG LAU.

Frage: Herr Westerwelle, 30 Prozent der Wähler in Frankreich haben für europafeindliche Parteien der Rechten und Linken gestimmt, besonders viele Jungwähler. Wie bedrohlich ist das?

WESTERWELLE: Ich teile die Sorge, die in der Frage liegt. Aber krisenhafte Zeiten in Europa haben immer wieder, und nicht nur in Frankreich, antieuropäische Populisten auf den Plan gerufen. Daraus ist bisher keine wirkliche Bedrohung für Europa geworden. Meist wurden solche politischen Strömungen in wenigen Jahren wieder auf Normalmaß zurückgestutzt. Die Menschen erkennen, dass vermeintlich simple Antworten auf Krisen gar keine Lösungen bieten.

Frage: Sie warnen vor einer Renationalisierung. Was ist damit gemeint?

WESTERWELLE: Nehmen Sie Menetekel wie den Versuch der letzten dänischen Regierung, an der deutsch-dänischen Grenze wieder permanente Grenzkontrollen einzurichten. Die Reisefreiheit ist eine europäische Errungenschaft. Es wäre ein schwerer Schaden, sie wieder infrage zu stellen.

Frage: Gilt diese Kritik auch für den Vorschlag von Innenminister Friedrich, nationale Grenzkontrollen bis zu 30 Tagen wieder möglich zu machen?

WESTERWELLE: Wir müssen aufpassen, nicht die falschen Botschaften zu senden. Für mich sind Reisefreiheit und Freizügigkeit in Europa nicht verhandelbar. Was vor Generationen nur ein Traum war, haben wir verwirklicht: Schengen macht das gemeinsame Europa für seine Bürger im Alltag erlebbar. Der Fall der Schlagbäume, diesen entscheidenden Schritt der Integration, dürfen wir sicher nicht dem Wahlkampfgetöse opfern. Wir brauchen die richtige Balance zwischen Freiheit und Sicherheit. Deshalb ist es unsere Aufgabe, die Außengrenzen Europas so zu sichern, dass nationale Alleingänge schlicht überflüssig sind.

Frage: In Spanien, Griechenland, Italien wächst der Zorn auf das "deutsche Spardiktat". Grund zur Sorge?

WESTERWELLE: Ich bin derzeit viel in Europa unterwegs, um die Behauptung zu widerlegen, Deutschland setze auf Sparsamkeit und sonst nichts. Wir setzen auf Haushaltsdisziplin, weil man eine Schuldenkrise nicht bekämpfen kann, indem man das Schuldenmachen erleichtert. Wir setzen aber gleichzeitig auf Wirtschaftswachstum durch bessere Wettbewerbsfähigkeit. Es gibt einen fundamentalen Unterschied zur Opposition in Deutschland: Sie glaubt immer noch, dass man Wirtschaftswachstum durch neue Staatsschulden kreieren kann. Wir haben doch gesehen, dass das nicht funktioniert.

Frage: Aber Ihre Politik funktioniert auch nicht. Die Spanier erleben gerade, dass durch mehr Haushaltsdisziplin keine Arbeitsplätze entstehen.

WESTERWELLE: Deswegen ist es auch richtig, dass die spanische Regierung nicht nur spart, sondern auch auf Strukturreformen setzt. Aber das kann doch nicht innerhalb von Wochen wirken!

Frage: Hat die Art, wie wir die Debatte über die Krise geführt haben, zur Verbitterung beigetragen?

WESTERWELLE: Ich wünschte, ich könnte Ihnen aus vollem Herzen widersprechen. Aber leider haben Sie recht. Der Ton macht die Musik. Diese Klischees, wonach die Griechen mit einer Flasche Retsina und Oliven unterm Baum liegen, während die Deutschen schwer arbeiten, die sind doch an Albernheit nicht zu überbieten. Auch der Satz, jetzt werde in Europa Deutsch gesprochen...

Frage:... vom Unionsfraktionschef Volker Kauder...

WESTERWELLE:... war anders gemeint, ist aber schief angekommen. Der vermeintliche Herrschaftsanspruch, der in solche Worte hineingelesen wird, ist für Menschen in anderen Ländern verletzend.

Frage: Aber Sie haben doch selbst auch Sprüche geklopft: In Deutschland dürften keine Renten gekürzt werden, während wir für die Griechen zahlen...

WESTERWELLE: Ich will nicht ausschließen, dass ich mich auch nicht immer nur geschickt geäußert habe. Aber für mich ist die mit Abstand wichtigste politische Entscheidung, die ich als Außenminister getroffen habe, die klare proeuropäische Ausrichtung als Antwort auf die Krise.

Frage: Hat die Politik der Bundesregierung keinen Anteil daran, dass Europa heute so unbeliebt ist?

WESTERWELLE: Die gesamte Strategie der Bundesregierung lautete von Anfang an: Solidarität gegen Solidität. Ich werde immer wieder die Veränderungen beim Renteneintrittsalter, die wir in Deutschland beschlossen haben, auch in anderen europäischen Ländern mit ähnlicher demografischer Entwicklung anmahnen. Viele Menschen gehen in Europa nun leider einen schweren Weg, einen Weg mit nackten Füßen auf zerbrochenem Glas. Dafür sollten wir Respekt und Mitgefühl empfinden. Aber die jetzt angepackten, notwendigen, jedoch bisher versäumten Reformen sind die einzige Möglichkeit, die wirtschaftliche und soziale Lage in Europa langfristig zu stabilisieren.

Frage: Könnte es sein, dass Deutschland recht hat, Europa am Ende aber trotzdem scheitert?

WESTERWELLE: Die große historische Frage ist doch: Sind die Fliehkräfte, die in der Krise auf Europa wirken, größer als die politische Kraft der Integration? Durch ganz Europa weht derzeit ein rauer Wind der Renationalisierung. In den meisten europäischen Ländern wachsen die Kräfte, die glauben, in einer als unübersichtlich und beängstigend wahrgenommenen Zeit der Globalisierung könne man sich in das heimische Biotop zurückziehen. Mit solchem Denken legen wir aber die Axt an die Wurzeln unseres Wohlstands. Wie wollen Sie einen Investor in Asien davon überzeugen, in Europa zu investieren, wenn wir Europäer das Signal senden, so richtig glauben wir auch nicht an die eigene Zukunft?

Frage: Und deswegen müssen wir um jeden Preis am Euro festhalten?

WESTERWELLE: Ich bin manchmal sprachlos angesichts der Realitätsverweigerung, mit der wir in Deutschland über diese Fragen debattieren. Deutschland ist in Europa relativ groß, aber relativ klein in der Welt des 21. Jahrhunderts. Deshalb brauchen wir unsere europäischen Partner und Mitbürger. Glauben wir denn, wir könnten Europa ohne Schaden rückabwickeln? Es geht um den ökonomischen, politischen und kulturellen Selbstbehauptungswillen von uns Europäern. Es gibt ein europäisches Lebensmodell, das wir verteidigen müssen. Dazu gehört, dass das Individuum etwas zählt und nicht nur das Kollektiv, dass wir nicht nur materielle, sondern auch postmaterielle Werte schätzen: individuelle Freiheit, soziale Sicherheit, Freiheit von Angst, kulturelle Vielfalt und eine ökologische Umgebung.

Frage: Nun reden Sie wie ein Grüner!

WESTERWELLE: Nein, wie ein Liberaler, für den nicht die guten Absichten, sondern die besten sozialen und ökologischen Ergebnisse zählen. Ein junger Brasilianer kann auch in Brasilien sehr erfolgreich sein und reich werden. Aber sicher und sorgenfrei in der Dämmerung über die Straße spazieren zu können ist in Lateinamerika eben nicht selbstverständlich. Manchmal glaube ich, dass wir Europäer nicht wissen, wie gut es uns geht. Und wir Deutschen vergessen zu oft, dass dieses privilegierte Leben mit unserer europäischen Verwurzelung zusammenhängt.

Frage: Wie sollte die EU in zehn Jahren aussehen?

WESTERWELLE: Es reicht nicht, aus der Krise nur finanzpolitische Konsequenzen zu ziehen, wir müssen strukturelle Antworten finden. Es drängt sich die Frage auf, ob aus den heutigen Rettungsschirmen EFSF und ESM nicht eines Tages ein echter europäischer Währungsfonds hervorgehen sollte, ein EWF. Eine andere Frage betrifft unsere demokratischen Entscheidungsmechanismen. Vielleicht können wir uns verständigen, auch unterhalb von Vertragsänderungen mehr Mehrheitsentscheidungen zuzulassen. Ich könnte mir mehr permanente Präsidentschaften statt der bisherigen Doppelpräsidentschaften vorstellen, und ich würde einen Präsidenten der Europäischen Union künftig direkt vom Volk wählen lassen. In dem Augenblick, in dem europäische Politiker in ganz Europa für sich und ihre Ideen werben müssen, werden sie auch in ganz Europa bekannt. Damit reduziert sich die Distanz zwischen politischen Entscheidungen und erlebtem Europa in der Bevölkerung. Es ducken sich in der europäischen Debatte zu viele weg, weil sie es fürchten, vom Wind der Renationalisierung angefaucht zu werden.


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