Beschluss des Parteirats zur Situation in Ägypten und der arabischen Welt

  • Pressemitteilung der Firma Bündnis 90/Die Grünen, 07.02.2011
Pressemitteilung vom: 07.02.2011 von der Firma Bündnis 90/Die Grünen aus Berlin

Kurzfassung: Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, zu Ihrer Information im Folgenden der Beschluss des Parteirats von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zur Situation in Ägypten und der arabischen Welt. Der Beschluss wurde heute einstimmig ...

[Bündnis 90/Die Grünen - 07.02.2011] Beschluss des Parteirats zur Situation in Ägypten und der arabischen Welt


Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Kolleginnen und Kollegen,

zu Ihrer Information im Folgenden der Beschluss des Parteirats von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zur Situation in Ägypten und der arabischen Welt.

Der Beschluss wurde heute einstimmig gefasst.

Mit den besten Grüßen

Jens Althoff

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Beschluss des Parteirats
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I. Demokratischer Aufbruch in den arabischen Ländern

Spätestens seit den Protesten in Tunesien befindet sich die arabische Welt am Beginn einer neuen Ära. Auch wenn an vielen Orten noch nicht absehbar ist, wie sich die weitere Entwicklung vollziehen wird, ist auf jeden Fall schon jetzt klar: Die Region wird nicht mehr die gleiche sein wie zuvor.

Angestoßen wurden die Proteste vor allem von jungen Menschen und Angehörigen der Mittelschicht. Doch sie bezogen schnell auch weitere gesellschaftliche Gruppen ein. Islamistische Kräfte spielten dabei weder in Tunesien, noch in Ägypten eine herausragende Rolle.

In Tunesien gelang es der Protestbewegung in kurzer Zeit, sowohl Präsident Ben Ali aus dem Land zu jagen als auch durchzusetzen, dass bis auf den Ministerpräsidenten alle Vertreter des alten Regimes aus der Übergangsregierung zurücktreten mussten. In Ägypten vollzieht sich die Entwicklung deutlich gewaltvoller, da das Regime durch Blutvergießen und gezielt gestiftetes Chaos den Machterhalt sichern will und offensichtlich auf Zeit spielt. Das Regime schickte Schlägertrupps gegen die Demonstrierenden, deren Mut und Beharrlichkeit uns beeindrucken, denn sie ließen sich nicht in die Flucht schlagen. Ihre Forderung ist
unumstößlich: Mubarak und sein Regime müssen abtreten!

Auch in anderen Staaten der Region gären die Wut und die Unzufriedenheit der Bürgerinnen und Bürger mit ihren Machthabern und der Unfreiheit, in der sie leben. Bereits im Juni 2009 gingen hunderttausende Iranerinnen und Iraner auf die Straßen und protestierten als "grüne Bewegung" gegen die massiven Fälschungen bei den Präsidentschaftswahlen. Ihr mutiger, wochenlanger Protest wurde blutig niedergeschlagen und viele der damaligen Demonstranten sitzen bis heute in Haft oder wurden sogar hingerichtet. Doch sie waren für viele der heute in Tunesien, Algerien, Ägypten, Jemen, Sudan, Jordanien, Syrien oder in Saudi-Arabien Protestierenden ein Vorbild.

Zum Teil versuchen die herrschenden Regierungen darauf zu reagieren: Im Jemen hat Präsident Ali Abdullah Salih nach 32 Jahren im Amt den Verzicht auf eine weitere Kandidatur verkündet. In Jordanien ernannte König Abdullah II einen ehemaligen Regierungschef zum neuen Ministerpräsidenten und beauftragte ihn mit der Regierungsbil-dung und der Einleitung von Reformen.

II. Das lange Zögern der Bundesregierung, der EU und der USA haben die Lage verschärft

Die Entwicklung ist eine Ohrfeige für die europäische Nahost- und Nordafrikapolitik. Nationalistische Despotie oder islamistisches Regime waren Scheinalternativen. Despotie sichert keine Stabilität.

Die mit großem Pomp gegründete Mittelmeerunion ist eine leere Hülle.
Statt durch eine wirtschaftliche und politische Öffnung der Maghreb-Länder eine langfristige Stabilität anzustreben, wie ursprünglich geplant, stand lediglich die Bekämpfung von Terrorismus und eine Flüchtlingsabwehrpolitik im Mittelpunkt der Zusammenarbeit. Dabei wurden die Bedürfnisse der Menschen in der Maghreb-Region völlig außer Acht gelassen und nur nach kurzfristigen, eigenen Interessen gehandelt.
Nach zwei nicht stattgefundenen Gipfeltreffen und dem Rücktritt des Generalsekretärs kann die Mittelmeerunion endgültig als gescheitert betrachtet werden. Angesichts der Entwicklungen in den Mittelmeerstaaten ist die EU dringend aufgefordert, einen Politik- und Strategiewechsel einzuleiten.

Als das Scheitern der eigenen Politik unübersehbar war, ließen die EU-Staaten wertvolle Tage verstreichen, bis sie zu einer gemeinsamen Linie fanden. Doch ist diese weiter von Lavieren und Zögern geprägt. Es gibt keine klare Rücktrittsforderung an den einstigen Verbündeten Mubarak. Durch das Nichtagieren der EU-Außenbeauftragten Catherine Ashton und der Uneinigkeit zwischen den einzelnen Regierungen hat die EU jede Chance verspielt, als relevanter Akteur und Unterstützer der Ägyptischen Bevölkerung aufzutreten. Deutschlands Außenminister Westerwelle erweist sich als Getriebener der Ereignisse. Den Schlingerkurs rechtfertigt die Kanzlerin mit der bizarren Berufung auf das Prinzip der Nicht-Einmischung. Das ist eine zynische Ausflucht, denn Deutschland und die EU mischen sich seit langem in Ägypten ein, neben manchen sinnvollen Entwicklungsprojekten vornehmlich in Form von Unterstützung und Stabilisierung eines undemokratischen und autoritären Regimes. Es geht also nicht um Einmischung oder Nicht-Einmischung, sondern um die Frage, auf welcher Seite Deutschland und die EU stehen.
Angesichts der Ausmaße der Proteste, angesichts des Mutes der Protestierenden, angesichts der brutalen Repression der Regierung, die zum Teil mit aus den USA und der EU gelieferten Waffen erfolgt, und angesichts der fortgesetzten Weigerung von Präsident Mubarak, aus seinen Ämtern zu scheiden, kann es für uns nur eine klare Parteinahme für die Demokratiebewegung geben.

Die "Revolutionstipps" von Bundeskanzlerin Merkel, mit denen sie auf die friedlichen Umstürze in Osteuropa 1989 verweist, um die Demonstrierenden ruhig zu stellen, sind nach den Ereignissen der vergangenen Woche gänzlich fehl am Platz. Niemand hätte die Deutsche Wiedervereinigung mit Erich Honecker und Erich Mielke gestaltet. Niemand hat eine Wahl für nächste Woche gefordert. Es geht jetzt darum, dass die Gewalt aufhört und die sich formierenden politischen Parteien den politischen Raum für diese Entfaltung bekommen.

Die USA betreiben einen Schlingerkurs. Einerseits gibt es verklausulierte Rücktrittsforderungen an Mubarak. Andererseits erklärt ein nach Kairo entsandter Sonderbeauftragter das Gegenteil, was dann wiederum als dessen Privatmeinung dargestellt wird.

Die Haltungen von Bundesregierung, EU und USA müssen Hosni Mubarak geradezu ermuntern, weiter auf Zeit zu spielen. Solange Mubarak aber nicht zurückgetreten ist, besteht die Gefahr, dass sich gewaltsame Attacken auf die Demonstranten sowie auf ausländische Journalisten, wie sie letzte Woche verübt wurden, wiederholen.

Heute bedarf es auch einer kritischen Auseinandersetzung mit der bisherigen Politik. Europa und die USA müssen das Scheitern ihrer Politik eingestehen, mit der sie die eigenen Werte jahrzehntelang verraten haben. Der Versuch, Stabilität ohne Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaat anzustreben, war ein fataler Irrweg. Er führte letztlich zur Destabilisierung einer ganzen Region – wie die derzeitigen Aufstände für Demokratie und Freiheit in den arabischen Ländern zeigen.
Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaat sind keine bloßen Zugaben, sondern die Fundamente politischer Stabilität.

Islamistische Kräfte gibt es in allen betroffenen Staaten. Aber es gibt sowohl Unter-schiede zwischen den verschiedenen Staaten wie auch verschiedene Fraktionen innerhalb der islamischen Bewegungen. Die islamistischen Kräfte spielen bei den bisherigen Umstürzen und Unruhen nur eine marginale Rolle. Vor diesem Hintergrund muss der weitere Umgang mit den islamistischen Kräften von folgenden Kriterien geleitet werden: diese Kräfte müssen die Universalität der Menschenrechte ebenso anerkennen wie die Regeln einer demokratischen Verfassung und geschlossene völkerrechtliche Verträge; dann darf es keine Ausgrenzung bei der Vorbereitung freier Wahlen in der Übergangsphase geben. III. Eckpunkte zur nachhaltigen Unterstützung der Freiheitsbewegung in der arabischen Welt

1. Wir stehen an der Seite der Freiheitsbewegung und unterstützen die friedliche Revolution.

2. Wir verurteilen die Gewalt der autokratischen Regime gegen die friedlichen Demonstranten und fordern die sofortige Beendigung des Ausnahmezustands, die Gewährung von Informations-, Versammlungs-, und Meinungsfreiheit sowie stets freien Zugang zu Internet und Handynetzen. Die Bewegungsfreiheit für Journalisten muss gewährleistet und alle gefangen genommenen Blogger und Journalisten unverzüglich freigelassen werden. Die Religionsfreiheit muss umfassend gewährleistet werden.

3. Wir fordern von der Bundesregierung und der EU, Druck auf die ägyptische Regierung mit dem Ziel auszuüben, dass Präsident Mubarak zurücktritt und einer Übergangsregierung Platz macht. Die EU-Mitgliedsstaaten sollten auch Sanktionen in Betracht ziehen wie das Einfrieren der Auslandskonten von Hosni Mubarak und seiner Familie.

4. Wir fordern, dass die EU den autokratischen Regierungen in der arabischen Welt die direkte Unterstützung in Form von Budgethilfe und militärischer Hilfe sofort entzieht, und zwar solange keine glaubhafte Transformation eingeleitet ist.

5. Wir fordern eine Neuordnung der EU-Mittelmeerpolitik unter Einbeziehung der Türkei hin zu einem Transformationspakt der EU mit den Ländern der arabischen Welt, um diese bei ihren Umbrüchen zu unterstützen und zu stabilisieren.

6. Wir fordern mehr Unterstützung für zivilgesellschaftliche Gruppen und demokratische Kräfte sowie ein intensives Rechts- und Sozialstaatsprogramm für die Gesellschaften im Transformationsprozess. In die damit verbundenen Gespräche müssen Frauenorganisationen explizit einbezogen werden.

7. Die Sicherheit des Staates Israel ist für uns nicht verhandelbar. Friedensverträge mit Ägypten und Jordanien sind wichtige Pfeiler der Stabilität. Auch die neu entstehenden Regierungen müssen daran festhalten. Hinsichtlich des Nahost-Friedensprozesses sehen wir die Notwendigkeit für rasche Fortschritte hin zu einer fairen Zwei-Staaten-Lösung.

Beschluss: einstimmig


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