Vorbehaltene Sicherungsverwahrung ist - mit Ausnahme des Verstoßes gegen das Abstandsgebot - verfassungsgemäß und konventionsrechtlich zulässig
- Pressemitteilung der Firma Bundesverfassungsgericht, 19.07.2012
Pressemitteilung vom: 19.07.2012 von der Firma Bundesverfassungsgericht aus Karlsruhe
Kurzfassung: Mit dem Institut der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung, das zum 28. August 2002 durch den neu eingeführten § 66a StGB Eingang in das Strafgesetzbuch fand, wurde die Möglichkeit geschaffen, in einem zweiaktigen Erkenntnisverfahren über die ...
[Bundesverfassungsgericht - 19.07.2012] Vorbehaltene Sicherungsverwahrung ist - mit Ausnahme des Verstoßes gegen das Abstandsgebot - verfassungsgemäß und konventionsrechtlich zulässig
Mit dem Institut der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung, das zum 28. August 2002 durch den neu eingeführten § 66a StGB Eingang in das Strafgesetzbuch fand, wurde die Möglichkeit geschaffen, in einem zweiaktigen Erkenntnisverfahren über die Verhängung der Maßregel zu entscheiden. Nach der damaligen, hier maßgeblichen Fassung des § 66a StGB kann das Gericht zunächst mit der Verurteilung die Anordnung der Sicherungsverwahrung vorbehalten, wenn zum Zeitpunkt der Verurteilung die Gefährlichkeit des Verurteilten für die Allgemeinheit nicht mit hinreichender Sicherheit festgestellt werden konnte und deshalb die Anordnung der primären Sicherungsverwahrung nicht in Betracht kam, im Übrigen aber deren Voraussetzungen nach § 66 Abs. 3 StGB a. F. vorlagen.
Zum Ende der Strafvollstreckung hat das erkennende Gericht sodann in einem zweiten Verfahrensschritt nach Durchführung einer (weiteren) Hauptverhandlung über die Anordnung der Sicherungsverwahrung zu entscheiden. Sie ist zwingend anzuordnen, wenn eine Gesamtwürdigung des Verurteilten, seiner Taten und seiner Entwicklung während des Strafvollzugs von ihm erhebliche Straftaten erwarten lässt, welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer schädigen (§ 66a Abs. 2 StGB a. F.; jetzt: § 66a Abs. 3 Satz 2 StGB). Mit der am 1. Januar 2011 in Kraft getretenen Neuregelung der Sicherungsverwahrung wurde auch die Vorschrift des § 66a StGB geändert; unter anderem ist der Straftatenkatalog der Anlasstaten reduziert worden.
Der seit den 1980er Jahren kontinuierlich wegen pädophiler Straftaten verurteilte Beschwerdeführer wurde im Februar 2008 vom Landgericht u. a. wegen mehrfachen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern und versuchter Vergewaltigung zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt. Zugleich wurde die Anordnung der Sicherungsverwahrung vorbehalten. Im November 2010 ordnete das Landgericht sodann mit dem hier angegriffenen Urteil gegen den Beschwerdeführer auf der Grundlage eines forensisch-psychiatrischen Gutachtens die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nach § 66a Abs. 2 StGB a. F. an. Seine hiergegen eingelegte Revision hatte vor dem Bundesgerichtshof keinen Erfolg. Mit der Verfassungsbeschwerde rügt er im Wesentlichen - unter Berufung auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 - eine Verletzung seines Freiheitsgrundrechts.
Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat festgestellt, dass die angegriffenen Entscheidungen den Beschwerdeführer in seinem Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG verletzen, weil sie auf der Vorschrift des § 66a StGB a. F. beruhen, die das Bundesverfassungsgericht mit Urteil vom 4. Mai 2011 für verfassungswidrig erklärt hat. Die Sache ist zur erneuten Entscheidung an den Bundesgerichtshof zurückverwiesen worden. Zugleich hat der Senat klargestellt, dass die Regelung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung nach § 66a StGB a. F. nicht - über die im Urteil vom 4. Mai 2011 festgestellte Verletzung des Freiheitsgrundrechts hinaus - gegen andere Bestimmungen des Grundgesetzes verstößt.
Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde:
I. Das Bundesverfassungsgericht hat mit seinem Urteil vom 4. Mai 2011 alle Vorschriften des Strafgesetzbuches und des Jugendgerichtsgesetzes über die Anordnung und Dauer der Sicherungsverwahrung und damit auch § 66a StGB a. F. wegen Verstoßes gegen das Abstandsgebot für unvereinbar mit dem Freiheitsgrundrecht erklärt (vgl. Pressemitteilung Nr. 31/2011 vom 4. Mai 2011). Die Vorschrift des § 66a StGB a. F. verstößt jedoch nicht aus anderen Gründen gegen Bestimmungen des Grundgesetzes.
1. Das Institut der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung verletzt nicht die in Art. 1 Abs. 1 GG verankerte Garantie der Menschenwürde. Der Senat hat bereits entschieden, dass die Menschenwürde durch eine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nicht verletzt wird, wenn diese wegen fortdauernder Gefährlichkeit des Untergebrachten als Präventivmaßnahme zum Schutz der Allgemeinheit notwendig ist. Für die vorbehaltene Sicherungsverwahrung ergibt sich keine hiervon abweichende Beurteilung.
Der Betroffene wird nicht zum Objekt staatlichen Handelns herabgewürdigt. Er wird zwar im Fall der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung zum Zeitpunkt der Verurteilung sowie in der Regel zumindest während eines großen Teils seiner Strafhaft über sein weiteres Schicksal im Ungewissen gelassen. Diese Ungewissheiten führen jedoch nicht zu besonderen Belastungen psychischer oder physischer Art, die als unmenschlich, grausam oder erniedrigend zu werten wären. Vielmehr hat der Betroffene die Vermeidung einer späteren Anordnung der Sicherungsverwahrung weitgehend selbst in der Hand, indem er etwa durch Mitwirkung an einer Therapie zu einer für ihn günstigen Gefährlichkeitsprognose beitragen kann. Gerade der bloße Vorbehalt der Sicherungsverwahrung ist daher geeignet, dem Betroffenen zu verdeutlichen, dass er nicht einem für ihn unbeherrschbaren Verlauf ausgeliefert ist.
2. Die vorbehaltene Sicherungsverwahrung verstößt jenseits des bereits im Urteil vom 4. Mai 2011 festgestellten Verstoßes gegen das Abstandsgebot nicht aus weiteren Gründen gegen das Freiheitsgrundrecht.
a) Sie genügt den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Die Anordnung des Vorbehalts stellt für den Betroffenen bei Abwägung mit dem Sicherheitsbedürfnis der Allgemeinheit keine unzumutbare Beeinträchtigung dar. Nach der gesetzlichen Ausgestaltung kann sie nicht bloß rein vorsorglich erfolgen, sondern erfordert neben den weiteren Voraussetzungen der Sicherungsverwahrung eine erhebliche, nahe liegende Wahrscheinlichkeit dafür, dass der Täter für die Allgemeinheit gefährlich ist und dies zum Zeitpunkt einer möglichen Entlassung auch noch sein wird. Zudem sind mit dem Vorbehalt keine rechtlichen Nachteile für den Vollzug der Strafe verbunden.
Die vorbehaltene Sicherungsverwahrung und deren spätere Anordnung stehen auch nicht angesichts der in Betracht kommenden Anlass- und Vortaten außer Verhältnis zur Intensität des Grundrechtseingriffs. Dem ultima-ratio-Prinzip im Rahmen der Sicherungsverwahrung wird dadurch Rechnung getragen, dass der Vorbehalt nur angeordnet werden kann, wenn die erforderliche erhebliche, nahe liegende Gefährlichkeit des Täters für die Allgemeinheit sich auf solche drohenden Straftaten bezieht, durch die potentielle Opfer körperlich oder seelisch schwer geschädigt werden. Damit ist die Anordnung des Vorbehalts und die spätere Anordnung der Sicherungsverwahrung in der Praxis regelmäßig dann ausgeschlossen, wenn im Vorfeld Straftaten begangen worden sind, die keine körperliche und seelische Schädigung beim Opfer hervorgerufen haben und nicht geeignet waren, solche Schädigungen herbeizuführen.
Des Weiteren erweist sich die vorbehaltene Sicherungsverwahrung auch nicht dadurch als unverhältnismäßig, dass bei der Entscheidung über ihre Anordnung die Gefährlichkeitsprognose auf das Verhalten des Betroffenen im Strafvollzug gestützt wird. Die begrenzte Aussagekraft des Vollzugsverhaltens führt dazu, dass das Verhalten des Betroffenen in der Strafhaft mit besonderer Vorsicht zu würdigen ist. Dem trägt die Rechtsprechung bereits dadurch hinreichend Rechnung, dass allgemein verbreitete und vollzugstypische Verhaltensweisen, wie etwa unfreundliches, aufsässiges Verhalten, nicht ohne Weiteres als Hinweis auf eine erhebliche Gefährlichkeit eines Verurteilten gewertet werden.
b) Die vorbehaltene Sicherungsverwahrung enthält auch unter Berücksichtigung der Wertungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) keinen unverhältnismäßigen Eingriff in das Freiheitsgrundrecht. Dieser findet seine Rechtfertigung in Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe a) EMRK, der eine "rechtmäßige Freiheitsentziehung nach Verurteilung durch ein zuständiges Gericht" gestattet. Voraussetzung ist, dass zwischen der Verurteilung, die die Schuldfeststellung enthält, und der in Rede stehenden Freiheitsentziehung ein hinreichender Kausalzusammenhang besteht. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte steht es der Annahme eines solchen Kausalzusammenhangs nicht entgegen, dass die Freiheitsentziehung nicht zusammen mit der Verurteilung ausgesprochen wird. Vielmehr kommt es darauf an, dass sich eine später angeordnete Freiheitsentziehung in dem zum Zeitpunkt der Verurteilung bestehenden gesetzlichen und durch die Verurteilung gesteckten Rahmen bewegt.
Diese Voraussetzung ist erfüllt, weil mit der Entscheidung, die Sicherungsverwahrung vorzubehalten, die Grundlage für eine spätere Anordnung geschaffen wird. Sinn und Zweck des Vorbehalts ist es gerade, eine breitere Tatsachengrundlage für die Entscheidung zu schaffen, ob die Notwendigkeit besteht, den Täter zum Schutz der Allgemeinheit in der Sicherungsverwahrung unterzubringen, und damit eine genauere Gefährlichkeitsprognose zu erhalten. Die Entscheidung über die Anordnung der Sicherungsverwahrung beruht daher auf Gründen, die bereits in dem Vorbehaltsurteil angelegt sind.
c) Die vorbehaltene Sicherungsverwahrung verstößt auch weder gegen das Bestimmtheitsgebot noch gegen das Gebot der Rechtssicherheit.
Insbesondere besteht kein allgemeiner Grundsatz dahingehend, dass der von einem staatlichen Eingriff in seine Freiheit Betroffene bereits mit der Aburteilung Gewissheit über die tatsächliche Dauer der Freiheitsentziehung haben müsste. Das Gebot der Rechtssicherheit gibt dem Betroffenen lediglich den Anspruch auf Gewissheit über die Länge einer Freiheitsentziehung zu dem Zeitpunkt, der nach der vom Gesetzgeber gewählten Grundstruktur des Verfahrens eine verbindliche Entscheidung erlaubt. Der Konstruktion der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung ist es gerade immanent, dass die Entscheidung über die Anordnung der Sicherungsverwahrung erst zu einem späteren Zeitpunkt getroffen werden kann.
II. Die angegriffenen Entscheidungen verletzen den Beschwerdeführer in seinem Freiheitsgrundrecht, weil sie auf der verfassungswidrigen Vorschrift des § 66a StGB a. F. beruhen. Nach den im Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 getroffenen Übergangsregelungen darf die Vorschrift des § 66a StGB a. F. - wie alle wegen Verletzung des Freiheitsgrundrechts verfassungswidrigen Vorschriften zur Sicherungsverwahrung - nur nach Maßgabe einer strikten Verhältnismäßigkeitsprüfung angewandt werden. In der Regel wird dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nur Genüge getan, wenn eine Gefahr schwerer Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Betroffenen abzuleiten ist. Die Gerichte haben nicht geprüft, ob nach diesem Maßstab die Anordnung der Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung zulässig ist. Der Bundesgerichtshof hat in seiner erneuten Revi-sionsentscheidung zu prüfen, ob die erstinstanzlich bereits getroffenen Feststellungen zur abschließenden Entscheidung über die Anordnung der Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung genügen oder ob hierfür ergänzende Feststellungen zu treffen sind.
Kontakt:
Schloßbezirk 3, 76131 Karlsruhe
Postfach 1771, 76006 Karlsruhe
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Mit dem Institut der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung, das zum 28. August 2002 durch den neu eingeführten § 66a StGB Eingang in das Strafgesetzbuch fand, wurde die Möglichkeit geschaffen, in einem zweiaktigen Erkenntnisverfahren über die Verhängung der Maßregel zu entscheiden. Nach der damaligen, hier maßgeblichen Fassung des § 66a StGB kann das Gericht zunächst mit der Verurteilung die Anordnung der Sicherungsverwahrung vorbehalten, wenn zum Zeitpunkt der Verurteilung die Gefährlichkeit des Verurteilten für die Allgemeinheit nicht mit hinreichender Sicherheit festgestellt werden konnte und deshalb die Anordnung der primären Sicherungsverwahrung nicht in Betracht kam, im Übrigen aber deren Voraussetzungen nach § 66 Abs. 3 StGB a. F. vorlagen.
Zum Ende der Strafvollstreckung hat das erkennende Gericht sodann in einem zweiten Verfahrensschritt nach Durchführung einer (weiteren) Hauptverhandlung über die Anordnung der Sicherungsverwahrung zu entscheiden. Sie ist zwingend anzuordnen, wenn eine Gesamtwürdigung des Verurteilten, seiner Taten und seiner Entwicklung während des Strafvollzugs von ihm erhebliche Straftaten erwarten lässt, welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer schädigen (§ 66a Abs. 2 StGB a. F.; jetzt: § 66a Abs. 3 Satz 2 StGB). Mit der am 1. Januar 2011 in Kraft getretenen Neuregelung der Sicherungsverwahrung wurde auch die Vorschrift des § 66a StGB geändert; unter anderem ist der Straftatenkatalog der Anlasstaten reduziert worden.
Der seit den 1980er Jahren kontinuierlich wegen pädophiler Straftaten verurteilte Beschwerdeführer wurde im Februar 2008 vom Landgericht u. a. wegen mehrfachen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern und versuchter Vergewaltigung zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt. Zugleich wurde die Anordnung der Sicherungsverwahrung vorbehalten. Im November 2010 ordnete das Landgericht sodann mit dem hier angegriffenen Urteil gegen den Beschwerdeführer auf der Grundlage eines forensisch-psychiatrischen Gutachtens die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nach § 66a Abs. 2 StGB a. F. an. Seine hiergegen eingelegte Revision hatte vor dem Bundesgerichtshof keinen Erfolg. Mit der Verfassungsbeschwerde rügt er im Wesentlichen - unter Berufung auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 - eine Verletzung seines Freiheitsgrundrechts.
Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat festgestellt, dass die angegriffenen Entscheidungen den Beschwerdeführer in seinem Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG verletzen, weil sie auf der Vorschrift des § 66a StGB a. F. beruhen, die das Bundesverfassungsgericht mit Urteil vom 4. Mai 2011 für verfassungswidrig erklärt hat. Die Sache ist zur erneuten Entscheidung an den Bundesgerichtshof zurückverwiesen worden. Zugleich hat der Senat klargestellt, dass die Regelung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung nach § 66a StGB a. F. nicht - über die im Urteil vom 4. Mai 2011 festgestellte Verletzung des Freiheitsgrundrechts hinaus - gegen andere Bestimmungen des Grundgesetzes verstößt.
Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde:
I. Das Bundesverfassungsgericht hat mit seinem Urteil vom 4. Mai 2011 alle Vorschriften des Strafgesetzbuches und des Jugendgerichtsgesetzes über die Anordnung und Dauer der Sicherungsverwahrung und damit auch § 66a StGB a. F. wegen Verstoßes gegen das Abstandsgebot für unvereinbar mit dem Freiheitsgrundrecht erklärt (vgl. Pressemitteilung Nr. 31/2011 vom 4. Mai 2011). Die Vorschrift des § 66a StGB a. F. verstößt jedoch nicht aus anderen Gründen gegen Bestimmungen des Grundgesetzes.
1. Das Institut der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung verletzt nicht die in Art. 1 Abs. 1 GG verankerte Garantie der Menschenwürde. Der Senat hat bereits entschieden, dass die Menschenwürde durch eine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nicht verletzt wird, wenn diese wegen fortdauernder Gefährlichkeit des Untergebrachten als Präventivmaßnahme zum Schutz der Allgemeinheit notwendig ist. Für die vorbehaltene Sicherungsverwahrung ergibt sich keine hiervon abweichende Beurteilung.
Der Betroffene wird nicht zum Objekt staatlichen Handelns herabgewürdigt. Er wird zwar im Fall der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung zum Zeitpunkt der Verurteilung sowie in der Regel zumindest während eines großen Teils seiner Strafhaft über sein weiteres Schicksal im Ungewissen gelassen. Diese Ungewissheiten führen jedoch nicht zu besonderen Belastungen psychischer oder physischer Art, die als unmenschlich, grausam oder erniedrigend zu werten wären. Vielmehr hat der Betroffene die Vermeidung einer späteren Anordnung der Sicherungsverwahrung weitgehend selbst in der Hand, indem er etwa durch Mitwirkung an einer Therapie zu einer für ihn günstigen Gefährlichkeitsprognose beitragen kann. Gerade der bloße Vorbehalt der Sicherungsverwahrung ist daher geeignet, dem Betroffenen zu verdeutlichen, dass er nicht einem für ihn unbeherrschbaren Verlauf ausgeliefert ist.
2. Die vorbehaltene Sicherungsverwahrung verstößt jenseits des bereits im Urteil vom 4. Mai 2011 festgestellten Verstoßes gegen das Abstandsgebot nicht aus weiteren Gründen gegen das Freiheitsgrundrecht.
a) Sie genügt den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Die Anordnung des Vorbehalts stellt für den Betroffenen bei Abwägung mit dem Sicherheitsbedürfnis der Allgemeinheit keine unzumutbare Beeinträchtigung dar. Nach der gesetzlichen Ausgestaltung kann sie nicht bloß rein vorsorglich erfolgen, sondern erfordert neben den weiteren Voraussetzungen der Sicherungsverwahrung eine erhebliche, nahe liegende Wahrscheinlichkeit dafür, dass der Täter für die Allgemeinheit gefährlich ist und dies zum Zeitpunkt einer möglichen Entlassung auch noch sein wird. Zudem sind mit dem Vorbehalt keine rechtlichen Nachteile für den Vollzug der Strafe verbunden.
Die vorbehaltene Sicherungsverwahrung und deren spätere Anordnung stehen auch nicht angesichts der in Betracht kommenden Anlass- und Vortaten außer Verhältnis zur Intensität des Grundrechtseingriffs. Dem ultima-ratio-Prinzip im Rahmen der Sicherungsverwahrung wird dadurch Rechnung getragen, dass der Vorbehalt nur angeordnet werden kann, wenn die erforderliche erhebliche, nahe liegende Gefährlichkeit des Täters für die Allgemeinheit sich auf solche drohenden Straftaten bezieht, durch die potentielle Opfer körperlich oder seelisch schwer geschädigt werden. Damit ist die Anordnung des Vorbehalts und die spätere Anordnung der Sicherungsverwahrung in der Praxis regelmäßig dann ausgeschlossen, wenn im Vorfeld Straftaten begangen worden sind, die keine körperliche und seelische Schädigung beim Opfer hervorgerufen haben und nicht geeignet waren, solche Schädigungen herbeizuführen.
Des Weiteren erweist sich die vorbehaltene Sicherungsverwahrung auch nicht dadurch als unverhältnismäßig, dass bei der Entscheidung über ihre Anordnung die Gefährlichkeitsprognose auf das Verhalten des Betroffenen im Strafvollzug gestützt wird. Die begrenzte Aussagekraft des Vollzugsverhaltens führt dazu, dass das Verhalten des Betroffenen in der Strafhaft mit besonderer Vorsicht zu würdigen ist. Dem trägt die Rechtsprechung bereits dadurch hinreichend Rechnung, dass allgemein verbreitete und vollzugstypische Verhaltensweisen, wie etwa unfreundliches, aufsässiges Verhalten, nicht ohne Weiteres als Hinweis auf eine erhebliche Gefährlichkeit eines Verurteilten gewertet werden.
b) Die vorbehaltene Sicherungsverwahrung enthält auch unter Berücksichtigung der Wertungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) keinen unverhältnismäßigen Eingriff in das Freiheitsgrundrecht. Dieser findet seine Rechtfertigung in Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe a) EMRK, der eine "rechtmäßige Freiheitsentziehung nach Verurteilung durch ein zuständiges Gericht" gestattet. Voraussetzung ist, dass zwischen der Verurteilung, die die Schuldfeststellung enthält, und der in Rede stehenden Freiheitsentziehung ein hinreichender Kausalzusammenhang besteht. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte steht es der Annahme eines solchen Kausalzusammenhangs nicht entgegen, dass die Freiheitsentziehung nicht zusammen mit der Verurteilung ausgesprochen wird. Vielmehr kommt es darauf an, dass sich eine später angeordnete Freiheitsentziehung in dem zum Zeitpunkt der Verurteilung bestehenden gesetzlichen und durch die Verurteilung gesteckten Rahmen bewegt.
Diese Voraussetzung ist erfüllt, weil mit der Entscheidung, die Sicherungsverwahrung vorzubehalten, die Grundlage für eine spätere Anordnung geschaffen wird. Sinn und Zweck des Vorbehalts ist es gerade, eine breitere Tatsachengrundlage für die Entscheidung zu schaffen, ob die Notwendigkeit besteht, den Täter zum Schutz der Allgemeinheit in der Sicherungsverwahrung unterzubringen, und damit eine genauere Gefährlichkeitsprognose zu erhalten. Die Entscheidung über die Anordnung der Sicherungsverwahrung beruht daher auf Gründen, die bereits in dem Vorbehaltsurteil angelegt sind.
c) Die vorbehaltene Sicherungsverwahrung verstößt auch weder gegen das Bestimmtheitsgebot noch gegen das Gebot der Rechtssicherheit.
Insbesondere besteht kein allgemeiner Grundsatz dahingehend, dass der von einem staatlichen Eingriff in seine Freiheit Betroffene bereits mit der Aburteilung Gewissheit über die tatsächliche Dauer der Freiheitsentziehung haben müsste. Das Gebot der Rechtssicherheit gibt dem Betroffenen lediglich den Anspruch auf Gewissheit über die Länge einer Freiheitsentziehung zu dem Zeitpunkt, der nach der vom Gesetzgeber gewählten Grundstruktur des Verfahrens eine verbindliche Entscheidung erlaubt. Der Konstruktion der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung ist es gerade immanent, dass die Entscheidung über die Anordnung der Sicherungsverwahrung erst zu einem späteren Zeitpunkt getroffen werden kann.
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Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe wacht über die Einhaltung des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland. Seit seiner Gründung im Jahr 1951 hat das Gericht dazu beigetragen, der freiheitlich-demokratischen Grundordnung Ansehen und Wirkung zu verschaffen. Das gilt vor allem für die Durchsetzung der Grundrechte.
Zur Beachtung des Grundgesetzes sind alle staatlichen Stellen verpflichtet. Kommt es dabei zum Streit, kann das Bundesverfassungsgericht angerufen werden. Seine Entscheidung ist unanfechtbar. An seine Rechtsprechung sind alle übrigen Staatsorgane gebunden.
Die Arbeit des Bundesverfassungsgerichts hat auch politische Wirkung. Das wird besonders deutlich, wenn das Gericht ein Gesetz für verfassungswidrig erklärt. Das Gericht ist aber kein politisches Organ. Sein Maßstab ist allein das Grundgesetz. Fragen der politischen Zweckmäßigkeit dürfen für das Gericht keine Rolle spielen. Es bestimmt nur den verfassungsrechtlichen Rahmen des politischen Entscheidungsspielraums. Die Begrenzung staatlicher Macht ist ein Kennzeichen des Rechtsstaats.
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Zur Beachtung des Grundgesetzes sind alle staatlichen Stellen verpflichtet. Kommt es dabei zum Streit, kann das Bundesverfassungsgericht angerufen werden. Seine Entscheidung ist unanfechtbar. An seine Rechtsprechung sind alle übrigen Staatsorgane gebunden.
Die Arbeit des Bundesverfassungsgerichts hat auch politische Wirkung. Das wird besonders deutlich, wenn das Gericht ein Gesetz für verfassungswidrig erklärt. Das Gericht ist aber kein politisches Organ. Sein Maßstab ist allein das Grundgesetz. Fragen der politischen Zweckmäßigkeit dürfen für das Gericht keine Rolle spielen. Es bestimmt nur den verfassungsrechtlichen Rahmen des politischen Entscheidungsspielraums. Die Begrenzung staatlicher Macht ist ein Kennzeichen des Rechtsstaats.
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