Vertrauensschutz in den Fortbestand einer steuerrechtlichen Regelung

Kurzfassung: Vertrauensschutz in den Fortbestand einer steuerrechtlichen RegelungDer Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat seine Rechtsprechung zur Rückwirkung von Steuergesetzen im Anschluss an mehrere B ...
[Bundesverfassungsgericht - 09.11.2012] Vertrauensschutz in den Fortbestand einer steuerrechtlichen Regelung

Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat seine Rechtsprechung
zur Rückwirkung von Steuergesetzen im Anschluss an mehrere Beschlüsse
des Zweiten Senats vom Juli 2010 weiterentwickelt. Rückwirkende
Änderungen des Steuerrechts für einen noch laufenden Veranlagungs- oder
Erhebungszeitraum sind als Fälle unechter Rückwirkung nicht
grundsätzlich unzulässig. Sie stehen den Fällen echter Rückwirkung
allerdings nahe und unterliegen daher besonderen Anforderungen unter den
Gesichtspunkten von Vertrauensschutz und Verhältnismäßigkeit. Das
Vertrauen in den Fortbestand der Rechtslage wird durch die Einbringung
eines Gesetzentwurfs in Frage gestellt und jedenfalls durch den
endgültigen Beschluss des Deutschen Bundestages über das rückwirkende
Gesetz zerstört. Im hier vorliegenden Fall einer Regelung, die erstmals
im Vermittlungsverfahren zwischen Bundestag und Bundesrat vorgeschlagen
worden ist, wird das Vertrauen in den Fortbestand der Rechtslage durch
den Vorschlag des Vermittlungsausschusses beseitigt.
Die Vorlage des Finanzgerichts Münster betrifft die Frage, ob der
frühere 36 Abs. 4 des Gewerbesteuergesetzes in der Fassung des
Gesetzes zur Fortentwicklung des Unternehmens¬steuerrechts vom 20.
Dezember 2001 (BGBl I S. 3858, im Folgenden: GewStG a. F.) die Anwendung
des 8 Nr. 5 GewStG mit verfassungsrechtlich unzulässiger Rückwirkung
bereits für den Erhebungszeitraum 2001 anordnet.
Gemäß dem Beschluss des Ersten Senats vom 10. Oktober 2012 ist das
rückwirkende Inkraftsetzen verfassungsgemäß, soweit es den Zeitraum nach
dem Vorschlag des Vermittlungsausschusses vom 11. Dezember 2001
betrifft. Soweit hingegen bis einschließlich 11. Dezember 2001
beschlossene und zugeflossene Vorabausschüttungen erfasst werden, ist
dies unvereinbar mit den Grundsätzen des Vertrauensschutzes (Art. 20
Abs. 3 GG) und deshalb verfassungswidrig.
Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde:
1. Die rückwirkend in Kraft gesetzte Hinzurechnungsvorschrift des 8
Nr. 5 GewStG steht im Zusammenhang mit dem Systemwechsel im
Körperschaftsteuerrecht vom früheren Anrechnungs-verfahren zum
sogenannten Halbeinkünfteverfahren. Die nach Einkommen- oder
Körperschaft-steuerrecht außer Ansatz bleibenden Gewinnanteile
(Dividenden) aus sogenannten Streubesitz-beteiligungen von weniger als
10 % (seit 2008: weniger als 15 %) werden im Gewerbesteuerrecht dem
Gewinn wieder hinzugerechnet.
2. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung hatte zu dieser Frage zunächst
keine Regelung vorgesehen. Erst die Beschlussempfehlung des
Vermittlungsausschusses vom 11. Dezember 2001 enthielt die später Gesetz
gewordene Vorschrift. Der Bundestag beschloss am 14. Dezember 2001
entsprechend dem Vorschlag des Vermittlungsausschusses, der Bundesrat
stimmte am 20. Dezember 2001 zu. Am 24. Dezember 2001 wurde das Gesetz
im Bundesgesetzblatt verkündet.
3. Die Regelung des 36 Abs. 4 GewStG a. F., nach der 8 Nr. 5 GewStG
erstmals für den Erhebungszeitraum 2001 anzuwenden ist, führt zu einer
unechten Rückwirkung.
a) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts liegt
eine echte Rückwirkung im Steuerrecht nur vor, wenn der Gesetzgeber eine
bereits entstandene Steuerschuld nachträglich abändert (vgl. zuletzt die
Beschlüsse des Zweiten Senats vom 7. Juli 2010; BVerfGE 127, 1; 127, 31;
127, 61). Die Änderung steuerrechtlicher Normen mit Wirkung für einen
noch laufenden Veranlagungs- oder Erhebungszeitraum ist der Kategorie
der unechten Rückwirkung zuzuordnen und - im Gegensatz zur echten
Rückwirkung - nicht grundsätzlich unzulässig.
b) Rückwirkende Regelungen innerhalb eines Veranlagungs- oder
Erhebungszeitraums stehen den Fällen echter Rückwirkung jedoch in
vielerlei Hinsicht nahe. Für die Vereinbarkeit mit der Verfassung gelten
daher gesteigerte Anforderungen. Wenn der Gesetzgeber das
Gewerbe¬steuerrecht während des laufenden Erhebungszeitraums umgestaltet
und die Rechtsänderungen auf dessen Beginn bezieht, müssen die
belastenden Wirkungen einer Enttäuschung schutz¬würdigen Vertrauens
verhältnismäßig sein.
4. Gewinnausschüttungen beruhen nicht zwingend auf einer besonderen
Vertrauensdisposition eines Streubesitzbeteiligten; gleichwohl kann
dieser sich jedenfalls innerhalb eines Erhebungs¬zeitraums grundsätzlich
auf sein Vertrauen in die geltende Rechtslage berufen. Der Vorschlag des
Vermittlungsausschusses vom 11. Dezember 2001 hat das Vertrauen in den
Fortbestand der Rechtslage beseitigt.
a) Steuerpflichtige können ab der Einbringung eines Gesetzentwurfs im
Bundestag durch ein initiativberechtigtes Organ nicht mehr
uneingeschränkt darauf vertrauen, das gegenwärtig geltende Recht werde
auch in Zukunft unverändert fortbestehen. Jedenfalls ab dem endgültigen
Bundestagsbeschluss müssen die Betroffenen nach ständiger Rechtsprechung
des Bundesverfassungsgerichts mit der Verkündung und dem Inkrafttreten
der Neuregelung rechnen.
b) Der vorliegende Fall ist durch die Besonderheit geprägt, dass die
rückwirkend in Kraft gesetzte Hinzurechnungsvorschrift erstmals in der
Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses vom 11. Dezember 2001
enthalten war. Hinsichtlich ihrer vertrauensbeeinträchtigenden Wirkung
entspricht die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses nicht nur
einem Gesetzentwurf, sondern geht darüber hinaus. Die Annahme eines
solchen Vermittlungsvorschlags durch den Bundestag ist regelmäßig
erheblich wahrscheinlicher als die eines Gesetzentwurfs, weil der
Vermittlungsvorschlag am Ende des parlamentarischen
Entscheidungsfindungsprozesses einschließlich der Kompromissbemühungen
des Vermittlungsausschusses steht und deren Ergebnis markiert.
5. 36 Abs. 4 GewStG a. F. ist verfassungsgemäß, soweit er 8 Nr. 5
GewStG auf Dividendenvorabausschüttungen für anwendbar erklärt, die nach
dem 11. Dezember 2001 zugeflossen sind. Das gilt auch, soweit der
Zufluss noch vor der Verkündung im Bundesgesetzblatt vom 24. Dezember
2001 erfolgt ist. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht in einem seiner
Beschlüsse vom 7. Juli 2010 Vertrauensschutz für den Fall gewährt, dass
der Mittelzufluss vor Verkündung der Neuregelung erfolgt ist (BVerfGE
127, 31). Dabei ging es jedoch um Abfindungsvereinbarungen zwischen
Arbeitgebern und Arbeitnehmern, mit deren Abschluss der Arbeitnehmer
über den Bestand seines Arbeitsvertrags und so über Teile seiner
wirtschaftlichen Existenz disponiert. Die vorliegende Fallkonstellation
ist damit nicht vergleichbar.

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