16.05.2013 09:42 Uhr in Gesellschaft & Familie von Human Rights Watch Deutschland
Ungarn: Rechtsstaat unter Beschuss
Kurzfassung: Ungarn: Rechtsstaat unter Beschuss Verfassungsänderungen der Regierung bedrohen Rechtsordnung und erfordern Reaktion der EUDie systematischen Änderungen an UngarnsRechtsordnung, welche die Regierung ...
[Human Rights Watch Deutschland - 16.05.2013] Ungarn: Rechtsstaat unter Beschuss
Verfassungsänderungen der Regierung bedrohen Rechtsordnung und erfordern Reaktion der EU
Die systematischen Änderungen an UngarnsRechtsordnung, welche die Regierung seit 2010 vorgenommen hat, schwächen die juristische Kontrolle der Regierungsvollmachten, beeinträchtigen die Medienfreiheit und untergraben den Schutz der Menschenrechte, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Die Blockadehaltung der ungarischen Regierung gegenüber den Empfehlungen der europäischen Institutionen sollte die EUzu konkretem Handeln veranlassen, einschließlich Schritten in Richtung einer Aufhebung von Ungarns Stimmrechten, so Human Rights Watch.
Der 29-seitige Bericht "Wrong Direction on Rights: Assessing the Impact of Hungarys New Constitution and Laws" untersucht die neue Verfassung und andere Gesetzesnovellen im Hinblick auf ihre Folgen für den Schutz der Menschenrechte und die Rechtsstaatlichkeit. Er zeigt, dass die Regierung Kritik von Seiten der EU und des Europarats weitgehend ignoriert. Zudem versucht die Regierungdurch zusätzliche Verfassungsänderungen , bindende Urteile aufzuheben, die das Ungarische Verfassungsgericht zur Wahrung der Grundrechte erlassen hat. Der Bericht kommt zu dem Schluss, dass Ungarn mit den Gesetzesänderungen seine rechtlichen Verpflichtungen als Mitglied der EU und des Europarats verletzt.
"Die Gesetzesänderungen der ungarischen Regierung untergraben den Rechtsstaat und den Schutz der Menschenrechte", so Lydia Gall, Balkan- und Osteuropaexpertin bei Human Rights Watch. "Das Beunruhigendste ist jedoch, dass die Regierung weder die Empfehlungen der europäischen Institutionen noch die Urteile des eigenen Verfassungsgerichts anerkennt."
Seit die Regierungspartei Fidesz bei den Parlamentswahlen 2010 zwei Drittel der Sitze im ungarischen Parlament errang, nutzt sie ihre Zweidrittelmehrheit, um tiefgreifende Veränderungen an Ungarns Rechtsordnung vorzunehmen, welche den Schutz der Menschenrechte und die Rechtsstaatlichkeit bereits geschwächt haben. Mit beachtlichem Tempo und ohne angemessene öffentliche Beratungen hat die Regierung bereits eine neue Verfassung eingeführt und über 600 Gesetzesnovellen durchgesetzt.
Die Verfassungsänderungen und andere Novellen haben die Unabhängigkeit der Justiz und Justizverwaltung aufgehoben, knapp 300 Richter in den vorzeitigen Ruhestand gezwungen und die Fähigkeit des Verfassungsgerichts eingeschränkt, neue Gesetze und Verfassungsbeschwerden zu prüfen.
Die Veränderungen wirken sich auch auf die Freiheit der Medien aus. Unabhängige Medien erklärten gegenüber Human Rights Watch, sie betrieben aufgrund der unklaren Bestimmungen über zulässige Inhalte Selbstzensur. Die Medien-Regulierungsbehörde verweigerte einem unabhängigen Radiokanal wiederholt die Ausstellung einer Sendelizenz und lenkte erst ein, als mehrere Gerichtsurteile die Erteilung der Genehmigung angeordnet hatten.
Die neue Verfassung hat Hunderten Religionsgemeinschaften ihren Status als "Kirchen" nach ungarischem Recht entzogen. Sie diskriminiert zudem Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender (LGBT) durch eine restriktive Definition des Begriffs "Familie", schränkt die Frauenrechte ein und schließt Menschen mit geistiger Behinderung vom Wahlrecht aus.
Von 2012 bis Anfang 2013 erklärte das Verfassungsgericht eine Reihe von Gesetzen und Bestimmungen für unzulässig, darunter die vorzeitige Zwangspensionierung von Richtern, den willkürlichen Genehmigungsprozess für Religionsgemeinschaften ohne Möglichkeit zur juristischen Anfechtung und die Kriminalisierung der Obdachlosigkeit. Statt die Urteile zu respektieren, nahm die Regierung die betreffenden Regelungen im März 2013 in die Verfassung auf und entzog dem Verfassungsgericht die Vollmacht, Verfassungsänderungen zu prüfen. Damit machte sie es den Richtern unmöglich, die Maßnahmen erneut für ungültig zu erklären.
"Statt sich an die Urteile des Verfassungsgerichts zu halten, nahm die Regierung die für verfassungswidrig befundenen Gesetze einfach in die Verfassung auf und machte es den Richtern damit unmöglich, sie zu prüfen", so Gall. "Man kann sich kein deutlicheres Beispiel für die Geringschätzung vorstellen, welche die ungarischen Regierungen für den Rechtsstaat hegt."
Das Vorgehen der ungarischen Regierung wurde international scharf kritisiert, etwa durch die Europäische Kommission, das Europäische Parlament, unabhängige Expertengremien des Europarats, die Bundesregierung und die US-Regierung. Die ungarische Regierung wies die Kritik als inhaltlich unzutreffend oder politisch motiviert zurück.
Angesichts der im März 2013 verabschiedeten Verfassungsänderungen erwägt die Europäische Kommission derzeit, ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn einzuleiten. Der Europäische Gerichtshof hat Ungarn bereits wegen der vorzeitigen Zwangspensionierung von Richtern verurteilt. Dem Europäischen Parlament liegt ein Bericht vor, der die Gesetzesänderungen in ihrer Gesamtheit untersucht.
Die Fraktion der Liberalen im Europäischen Parlament empfahl der EU, ein Vertragsverletzungsverfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrags einzuleiten, welches die Aufhebung der Stimmrechte eines Staates erlaubt, falls dessen Verhalten die Gemeinsamen Werte der EU zu verletzen droht oder ein schwerwiegender Verstoß gegen diese Werte vorliegt. Nach Einschätzung von Human Rights Watch ist es an der Zeit, Maßnahmen nach Artikel 7 einzuleiten.
Die Venedig-Kommission des Europarats beschäftigt sich ebenfalls mit den im März erlassenen Verfassungsänderungen. Zudem empfahl ein Ausschuss der Parlamentarischen Versammlung des Europarats, Ungarn einer Überprüfung (Monitoring) durch den Europarat zu unterwerfen - eine Prozedur, die gewöhnlich nur bei neuen Mitgliedern Anwendung findet. Sollte die Empfehlung umgesetzt werden, wäre Ungarn der erste EU-Staat, dem ein solches Monitoring auferlegt würde. Anhaltender Druck von Seiten des Europarats ist nach Einschätzung von Human Rights Watch entscheidend.
"Die ungarische Regierung beschuldigt all ihre Kritiker, voreingenommen, politisch motiviert und mit falschen Tatsachen vorzugehen, doch die Wahrheit ist weitaus einfacher: In ganz Europa herrscht tiefe Beunruhigung über die Lage des Rechtsstaats und der Menschenrechte in Ungarn", so Gall. "Wenn sogar Freunde sich Sorgen machen, ist es Zeit, zuzuhören und ihre Kritik nicht länger abzustreiten."
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Poststraße 4-5
10178 Berlin
Deutschland
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Verfassungsänderungen der Regierung bedrohen Rechtsordnung und erfordern Reaktion der EU
Die systematischen Änderungen an UngarnsRechtsordnung, welche die Regierung seit 2010 vorgenommen hat, schwächen die juristische Kontrolle der Regierungsvollmachten, beeinträchtigen die Medienfreiheit und untergraben den Schutz der Menschenrechte, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Die Blockadehaltung der ungarischen Regierung gegenüber den Empfehlungen der europäischen Institutionen sollte die EUzu konkretem Handeln veranlassen, einschließlich Schritten in Richtung einer Aufhebung von Ungarns Stimmrechten, so Human Rights Watch.
Der 29-seitige Bericht "Wrong Direction on Rights: Assessing the Impact of Hungarys New Constitution and Laws" untersucht die neue Verfassung und andere Gesetzesnovellen im Hinblick auf ihre Folgen für den Schutz der Menschenrechte und die Rechtsstaatlichkeit. Er zeigt, dass die Regierung Kritik von Seiten der EU und des Europarats weitgehend ignoriert. Zudem versucht die Regierungdurch zusätzliche Verfassungsänderungen , bindende Urteile aufzuheben, die das Ungarische Verfassungsgericht zur Wahrung der Grundrechte erlassen hat. Der Bericht kommt zu dem Schluss, dass Ungarn mit den Gesetzesänderungen seine rechtlichen Verpflichtungen als Mitglied der EU und des Europarats verletzt.
"Die Gesetzesänderungen der ungarischen Regierung untergraben den Rechtsstaat und den Schutz der Menschenrechte", so Lydia Gall, Balkan- und Osteuropaexpertin bei Human Rights Watch. "Das Beunruhigendste ist jedoch, dass die Regierung weder die Empfehlungen der europäischen Institutionen noch die Urteile des eigenen Verfassungsgerichts anerkennt."
Seit die Regierungspartei Fidesz bei den Parlamentswahlen 2010 zwei Drittel der Sitze im ungarischen Parlament errang, nutzt sie ihre Zweidrittelmehrheit, um tiefgreifende Veränderungen an Ungarns Rechtsordnung vorzunehmen, welche den Schutz der Menschenrechte und die Rechtsstaatlichkeit bereits geschwächt haben. Mit beachtlichem Tempo und ohne angemessene öffentliche Beratungen hat die Regierung bereits eine neue Verfassung eingeführt und über 600 Gesetzesnovellen durchgesetzt.
Die Verfassungsänderungen und andere Novellen haben die Unabhängigkeit der Justiz und Justizverwaltung aufgehoben, knapp 300 Richter in den vorzeitigen Ruhestand gezwungen und die Fähigkeit des Verfassungsgerichts eingeschränkt, neue Gesetze und Verfassungsbeschwerden zu prüfen.
Die Veränderungen wirken sich auch auf die Freiheit der Medien aus. Unabhängige Medien erklärten gegenüber Human Rights Watch, sie betrieben aufgrund der unklaren Bestimmungen über zulässige Inhalte Selbstzensur. Die Medien-Regulierungsbehörde verweigerte einem unabhängigen Radiokanal wiederholt die Ausstellung einer Sendelizenz und lenkte erst ein, als mehrere Gerichtsurteile die Erteilung der Genehmigung angeordnet hatten.
Die neue Verfassung hat Hunderten Religionsgemeinschaften ihren Status als "Kirchen" nach ungarischem Recht entzogen. Sie diskriminiert zudem Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender (LGBT) durch eine restriktive Definition des Begriffs "Familie", schränkt die Frauenrechte ein und schließt Menschen mit geistiger Behinderung vom Wahlrecht aus.
Von 2012 bis Anfang 2013 erklärte das Verfassungsgericht eine Reihe von Gesetzen und Bestimmungen für unzulässig, darunter die vorzeitige Zwangspensionierung von Richtern, den willkürlichen Genehmigungsprozess für Religionsgemeinschaften ohne Möglichkeit zur juristischen Anfechtung und die Kriminalisierung der Obdachlosigkeit. Statt die Urteile zu respektieren, nahm die Regierung die betreffenden Regelungen im März 2013 in die Verfassung auf und entzog dem Verfassungsgericht die Vollmacht, Verfassungsänderungen zu prüfen. Damit machte sie es den Richtern unmöglich, die Maßnahmen erneut für ungültig zu erklären.
"Statt sich an die Urteile des Verfassungsgerichts zu halten, nahm die Regierung die für verfassungswidrig befundenen Gesetze einfach in die Verfassung auf und machte es den Richtern damit unmöglich, sie zu prüfen", so Gall. "Man kann sich kein deutlicheres Beispiel für die Geringschätzung vorstellen, welche die ungarischen Regierungen für den Rechtsstaat hegt."
Das Vorgehen der ungarischen Regierung wurde international scharf kritisiert, etwa durch die Europäische Kommission, das Europäische Parlament, unabhängige Expertengremien des Europarats, die Bundesregierung und die US-Regierung. Die ungarische Regierung wies die Kritik als inhaltlich unzutreffend oder politisch motiviert zurück.
Angesichts der im März 2013 verabschiedeten Verfassungsänderungen erwägt die Europäische Kommission derzeit, ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn einzuleiten. Der Europäische Gerichtshof hat Ungarn bereits wegen der vorzeitigen Zwangspensionierung von Richtern verurteilt. Dem Europäischen Parlament liegt ein Bericht vor, der die Gesetzesänderungen in ihrer Gesamtheit untersucht.
Die Fraktion der Liberalen im Europäischen Parlament empfahl der EU, ein Vertragsverletzungsverfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrags einzuleiten, welches die Aufhebung der Stimmrechte eines Staates erlaubt, falls dessen Verhalten die Gemeinsamen Werte der EU zu verletzen droht oder ein schwerwiegender Verstoß gegen diese Werte vorliegt. Nach Einschätzung von Human Rights Watch ist es an der Zeit, Maßnahmen nach Artikel 7 einzuleiten.
Die Venedig-Kommission des Europarats beschäftigt sich ebenfalls mit den im März erlassenen Verfassungsänderungen. Zudem empfahl ein Ausschuss der Parlamentarischen Versammlung des Europarats, Ungarn einer Überprüfung (Monitoring) durch den Europarat zu unterwerfen - eine Prozedur, die gewöhnlich nur bei neuen Mitgliedern Anwendung findet. Sollte die Empfehlung umgesetzt werden, wäre Ungarn der erste EU-Staat, dem ein solches Monitoring auferlegt würde. Anhaltender Druck von Seiten des Europarats ist nach Einschätzung von Human Rights Watch entscheidend.
"Die ungarische Regierung beschuldigt all ihre Kritiker, voreingenommen, politisch motiviert und mit falschen Tatsachen vorzugehen, doch die Wahrheit ist weitaus einfacher: In ganz Europa herrscht tiefe Beunruhigung über die Lage des Rechtsstaats und der Menschenrechte in Ungarn", so Gall. "Wenn sogar Freunde sich Sorgen machen, ist es Zeit, zuzuhören und ihre Kritik nicht länger abzustreiten."
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