09.10.2013 15:45 Uhr in Wirtschaft & Finanzen von Hans-Böckler-Stiftung
Vor 40 Jahren: 'Steinkühlerpause' und mehr im Tarifvertrag zur Humanisierung der Fabrikarbeit
Kurzfassung: Vor 40 Jahren: "Steinkühlerpause" und mehr im Tarifvertrag zur Humanisierung der Fabrikarbeit WSI-Tarifarchiv erinnert an "Meilenstein der Tarifgeschichte"Vor 40 Jahren, im Oktober 1973, schlossen di ...
[Hans-Böckler-Stiftung - 09.10.2013] Vor 40 Jahren: "Steinkühlerpause" und mehr im Tarifvertrag zur Humanisierung der Fabrikarbeit
WSI-Tarifarchiv erinnert an "Meilenstein der Tarifgeschichte"
Vor 40 Jahren, im Oktober 1973, schlossen die IG Metall und der Metallarbeitgeberverband für die Metallindustrie Nordwürttemberg/Nordbaden den Lohnrahmentarifvertrag II ab. Der technisch-unspektakuläre Name sagt nur Fachleuten etwas, die darin vereinbarte "Steinkühlerpause" ist schon bekannter. Experten wie Dr. Reinhard Bispinck ordnen das Regelwerk als "Meilenstein in der Tarifgeschichte" ein. "Es gibt nur wenige Tarifverträge, die sich dem öffentlichen Gedächtnis dauerhaft eingeprägt haben. Der Lohnrahmentarifvertrag II gehört dazu. Auch wegen seiner Vorgeschichte", sagt der Leiter des WSI-Tarifarchivs in der Hans-Böckler-Stiftung. "Die IG Metall setzte mit dem Abschluss dieses Tarifvertrags ein unübersehbares Zeichen, dass die humane Gestaltung der Arbeitswelt erfolgreich zum Gegenstand von Tarifauseinandersetzungen gemacht werden kann. Wenn wir heute intensiv über Arbeitsdruck, Stress rund um die Uhr und Burnout diskutieren, zeigt das, wie aktuell das Thema ist." Ein kurzer Rückblick:
Tarifkonflikt: Vor dem Hintergrund eines wachsenden Rationalisierungsdrucks in der Industrie, zunehmender Leistungsverdichtung und offensichtlicher negativer Folgen von repetitiver Teilarbeit am Fließband hatte die IG Metall in ihrem tarifpolitischen Kerngebiet Nordwürttemberg/Nordbaden bereits 1969 ein Forderungspaket mit Regelungen zur Verbesserung der Arbeits- und Einkommensbedingungen zur Verhandlung gestellt. Von 1970 bis 1973 fanden 20 Verhandlungsrunden statt, die aber zu keinem erfolgreichen Abschluss führten. Auch der Versuch einer Schlichtung im September 1973 scheiterte an den Arbeitgebern. Nach erfolgreicher Urabstimmung mit 89 Prozent Zustimmung ihrer Mitglieder rief die IG Metall am 16. Oktober zu Schwerpunktstreiks bei Daimler und Bosch auf. 57.000 Beschäftigte beteiligten sich daran. Bereits nach wenigen Tagen, am 20. Oktober 1973, erzielten die IG Metall und der Arbeitgeberverband VMI ein Verhandlungsergebnis. Es fand in der 2. Urabstimmung die Zustimmung einer großen Mehrheit von 71 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder.
Der vom damaligen Stuttgarter Bezirksleiter und späteren IG Metall-Vorsitzenden Franz Steinkühler und dem baden-württembergischen Metallarbeitgeberchef und späteren BDA-Präsidenten Hanns-Martin Schleyer unterzeichnete Lohnrahmen II enthielt umfangreiche Bestimmungen zur Arbeitsorganisation, zu Erholzeiten und zu Entlohnungsbestimmungen. Viele Tarifregelungen mussten durch Betriebsvereinbarungen konkretisiert werden. Die Rolle der Betriebsräte wurde dadurch aufgewertet. Im Manteltarifvertrag wurden zudem wichtige Verbesserungen zur Verdienstsicherung und zum Kündigungsschutz vorgenommen. Die Kernbestimmungen umfassten folgende Punkte:
Erholpausen: Beschäftigte im Leistungslohn, also zum Beispiel Akkordarbeiter, erhielten einen Anspruch auf 5 Minuten bezahlte Erholungspause je Stunde, die auch als "Steinkühler-Pause" bekannt wurden. Außerdem wurde ihnen 3 Minuten Bedürfniszeit in der Stunde ("Pinkelpause") zugestanden.
Menschengerechte Arbeitsgestaltung: Als allgemeiner Grundsatz wurde festgeschrieben: Arbeitsplatz, Arbeitsablauf und Arbeitsumgebung sind menschgerecht zu gestalten.
Fließbandarbeit: Bei Fließ-, Fließband- und Taktarbeit sollte die Arbeitsgestaltung vorrangig darauf gerichtet sein, die Abwechslungsarmut der Beschäftigung durch Aufgabenbereicherung und Aufgabenerweiterung in ihren ungünstigen Auswirkungen auf den Menschen abzumildern. Das gilt vor allem für Arbeitstakte mit weniger als 90 Sekunden Dauer. Arbeitgeber und Betriebsrat haben alle Möglichkeiten der Aufgabenerweiterung und Aufgabenbereicherung auszuschöpfen. Bestehende Takte dürfen grundsätzlich nicht weiter aufgeteilt werden. Die Anzahl der Springer bei Fließband- und Taktarbeit ist mit dem Betriebsrat zu vereinbaren.
Datenermittlung: Umfangreiche Vorschriften zur Datenermittlung sollten sicherstellen, dass die Akkordbeschäftigten bei menschengerechter Gestaltung der Arbeitsbedingungen ohne Rücksicht auf Geschlecht, Alter und tägliches Schwanken der Arbeitsleistungsfähigkeit wie des Arbeitsergebnisses ohne gesteigerte Anstrengung den Tariflohn ihrer Lohn- oder Arbeitswertgruppe erreichen können.
Einkommensregelungen: Das tatsächliche Verdienstniveau der Akkordbeschäftigten im Betrieb muss im Durchschnitt mindestens 130 Prozent der tariflichen Akkordlohnsumme betragen. Wird der vorgeschriebene Prozentsatz nicht erreicht, so haben Arbeitgeber und Betriebsrat die Ursachen zu prüfen und Maßnahmen zu deren Beseitigung einzuleiten. Werden Vorgabezeiten bei Akkordarbeit von den Beschäftigten reklamiert, etwa weil sie zu knapp bemessen sind, haben die Beschäftigten den Anspruch auf Zahlung mindestens in Höhe des Durchschnittsverdienstes.
Verdienstsicherung und Kündigungsschutz für Ältere: Im Manteltarifvertrag wurde vereinbart, dass Beschäftigte ab dem 55. Lebensjahr mindestens den Durchschnittsverdienst des vergangenen Jahres erhalten. Wer 53 Jahre alt war und mindestens 3 Jahre dem Betrieb angehörte, konnte nur noch aus wichtigem Grund gekündigt werden.
"Der Tarifvertrag wird zu Recht als `Meilenstein der Tarifgeschichte´ bezeichnet", sagt Tarifexperte Bispinck. Das rückblickende Urteil von Franz Steinkühler lautet: " Der Lohnrahmentarifvertrag II von 1973 hat wie kein anderer Tarifvertrag nach ihm umfassende Verbesserungen in der Existenzmitte der arbeitenden Menschen, am Arbeitsplatz geschaffen." Allerdings hat der Lohnrahmen II so gut wie keine Nachahmer gefunden. Vereinzelt wurden Regelungen in anderen Tarifbereichen (etwa bei Volkswagen) aufgegriffen. Es gelang aber nicht, diese Regelungen auf andere regionale Tarifgebiete der Metallindustrie übertragen.
Nach Einführung der neuen Entgeltrahmentarifverträge versuchten die Metallarbeitgeber in Baden-Württemberg im Jahr 2005, die Regelungen insbesondere zu den Erholpausen in Frage zu stellen. Die Tarifparteien einigten sich schließlich auf die Wiederinkraftsetzung des Tarifvertrages zur Fortführung von Bestimmungen des Lohnrahmens II.
Der Anspruch auf 5 Minuten Erholzeit pro Stunde blieb erhalten für Beschäftigte, die im Leistungslohn überwiegend manuelle Tätigkeiten mit kurzen Arbeitszyklen oder Prüfaufgaben mit kurzen Arbeitszyklen bei permanenter Aufmerksamkeit und hoher Konzentration ausüben.
Hans-Böckler-Stiftung
Bertha-von-Suttner-Platz 1
40227 Düsseldorf
Deutschland
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WSI-Tarifarchiv erinnert an "Meilenstein der Tarifgeschichte"
Vor 40 Jahren, im Oktober 1973, schlossen die IG Metall und der Metallarbeitgeberverband für die Metallindustrie Nordwürttemberg/Nordbaden den Lohnrahmentarifvertrag II ab. Der technisch-unspektakuläre Name sagt nur Fachleuten etwas, die darin vereinbarte "Steinkühlerpause" ist schon bekannter. Experten wie Dr. Reinhard Bispinck ordnen das Regelwerk als "Meilenstein in der Tarifgeschichte" ein. "Es gibt nur wenige Tarifverträge, die sich dem öffentlichen Gedächtnis dauerhaft eingeprägt haben. Der Lohnrahmentarifvertrag II gehört dazu. Auch wegen seiner Vorgeschichte", sagt der Leiter des WSI-Tarifarchivs in der Hans-Böckler-Stiftung. "Die IG Metall setzte mit dem Abschluss dieses Tarifvertrags ein unübersehbares Zeichen, dass die humane Gestaltung der Arbeitswelt erfolgreich zum Gegenstand von Tarifauseinandersetzungen gemacht werden kann. Wenn wir heute intensiv über Arbeitsdruck, Stress rund um die Uhr und Burnout diskutieren, zeigt das, wie aktuell das Thema ist." Ein kurzer Rückblick:
Tarifkonflikt: Vor dem Hintergrund eines wachsenden Rationalisierungsdrucks in der Industrie, zunehmender Leistungsverdichtung und offensichtlicher negativer Folgen von repetitiver Teilarbeit am Fließband hatte die IG Metall in ihrem tarifpolitischen Kerngebiet Nordwürttemberg/Nordbaden bereits 1969 ein Forderungspaket mit Regelungen zur Verbesserung der Arbeits- und Einkommensbedingungen zur Verhandlung gestellt. Von 1970 bis 1973 fanden 20 Verhandlungsrunden statt, die aber zu keinem erfolgreichen Abschluss führten. Auch der Versuch einer Schlichtung im September 1973 scheiterte an den Arbeitgebern. Nach erfolgreicher Urabstimmung mit 89 Prozent Zustimmung ihrer Mitglieder rief die IG Metall am 16. Oktober zu Schwerpunktstreiks bei Daimler und Bosch auf. 57.000 Beschäftigte beteiligten sich daran. Bereits nach wenigen Tagen, am 20. Oktober 1973, erzielten die IG Metall und der Arbeitgeberverband VMI ein Verhandlungsergebnis. Es fand in der 2. Urabstimmung die Zustimmung einer großen Mehrheit von 71 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder.
Der vom damaligen Stuttgarter Bezirksleiter und späteren IG Metall-Vorsitzenden Franz Steinkühler und dem baden-württembergischen Metallarbeitgeberchef und späteren BDA-Präsidenten Hanns-Martin Schleyer unterzeichnete Lohnrahmen II enthielt umfangreiche Bestimmungen zur Arbeitsorganisation, zu Erholzeiten und zu Entlohnungsbestimmungen. Viele Tarifregelungen mussten durch Betriebsvereinbarungen konkretisiert werden. Die Rolle der Betriebsräte wurde dadurch aufgewertet. Im Manteltarifvertrag wurden zudem wichtige Verbesserungen zur Verdienstsicherung und zum Kündigungsschutz vorgenommen. Die Kernbestimmungen umfassten folgende Punkte:
Erholpausen: Beschäftigte im Leistungslohn, also zum Beispiel Akkordarbeiter, erhielten einen Anspruch auf 5 Minuten bezahlte Erholungspause je Stunde, die auch als "Steinkühler-Pause" bekannt wurden. Außerdem wurde ihnen 3 Minuten Bedürfniszeit in der Stunde ("Pinkelpause") zugestanden.
Menschengerechte Arbeitsgestaltung: Als allgemeiner Grundsatz wurde festgeschrieben: Arbeitsplatz, Arbeitsablauf und Arbeitsumgebung sind menschgerecht zu gestalten.
Fließbandarbeit: Bei Fließ-, Fließband- und Taktarbeit sollte die Arbeitsgestaltung vorrangig darauf gerichtet sein, die Abwechslungsarmut der Beschäftigung durch Aufgabenbereicherung und Aufgabenerweiterung in ihren ungünstigen Auswirkungen auf den Menschen abzumildern. Das gilt vor allem für Arbeitstakte mit weniger als 90 Sekunden Dauer. Arbeitgeber und Betriebsrat haben alle Möglichkeiten der Aufgabenerweiterung und Aufgabenbereicherung auszuschöpfen. Bestehende Takte dürfen grundsätzlich nicht weiter aufgeteilt werden. Die Anzahl der Springer bei Fließband- und Taktarbeit ist mit dem Betriebsrat zu vereinbaren.
Datenermittlung: Umfangreiche Vorschriften zur Datenermittlung sollten sicherstellen, dass die Akkordbeschäftigten bei menschengerechter Gestaltung der Arbeitsbedingungen ohne Rücksicht auf Geschlecht, Alter und tägliches Schwanken der Arbeitsleistungsfähigkeit wie des Arbeitsergebnisses ohne gesteigerte Anstrengung den Tariflohn ihrer Lohn- oder Arbeitswertgruppe erreichen können.
Einkommensregelungen: Das tatsächliche Verdienstniveau der Akkordbeschäftigten im Betrieb muss im Durchschnitt mindestens 130 Prozent der tariflichen Akkordlohnsumme betragen. Wird der vorgeschriebene Prozentsatz nicht erreicht, so haben Arbeitgeber und Betriebsrat die Ursachen zu prüfen und Maßnahmen zu deren Beseitigung einzuleiten. Werden Vorgabezeiten bei Akkordarbeit von den Beschäftigten reklamiert, etwa weil sie zu knapp bemessen sind, haben die Beschäftigten den Anspruch auf Zahlung mindestens in Höhe des Durchschnittsverdienstes.
Verdienstsicherung und Kündigungsschutz für Ältere: Im Manteltarifvertrag wurde vereinbart, dass Beschäftigte ab dem 55. Lebensjahr mindestens den Durchschnittsverdienst des vergangenen Jahres erhalten. Wer 53 Jahre alt war und mindestens 3 Jahre dem Betrieb angehörte, konnte nur noch aus wichtigem Grund gekündigt werden.
"Der Tarifvertrag wird zu Recht als `Meilenstein der Tarifgeschichte´ bezeichnet", sagt Tarifexperte Bispinck. Das rückblickende Urteil von Franz Steinkühler lautet: " Der Lohnrahmentarifvertrag II von 1973 hat wie kein anderer Tarifvertrag nach ihm umfassende Verbesserungen in der Existenzmitte der arbeitenden Menschen, am Arbeitsplatz geschaffen." Allerdings hat der Lohnrahmen II so gut wie keine Nachahmer gefunden. Vereinzelt wurden Regelungen in anderen Tarifbereichen (etwa bei Volkswagen) aufgegriffen. Es gelang aber nicht, diese Regelungen auf andere regionale Tarifgebiete der Metallindustrie übertragen.
Nach Einführung der neuen Entgeltrahmentarifverträge versuchten die Metallarbeitgeber in Baden-Württemberg im Jahr 2005, die Regelungen insbesondere zu den Erholpausen in Frage zu stellen. Die Tarifparteien einigten sich schließlich auf die Wiederinkraftsetzung des Tarifvertrages zur Fortführung von Bestimmungen des Lohnrahmens II.
Der Anspruch auf 5 Minuten Erholzeit pro Stunde blieb erhalten für Beschäftigte, die im Leistungslohn überwiegend manuelle Tätigkeiten mit kurzen Arbeitszyklen oder Prüfaufgaben mit kurzen Arbeitszyklen bei permanenter Aufmerksamkeit und hoher Konzentration ausüben.
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