10.02.2014 15:50 Uhr in Kultur & Kunst von Universität Siegen

Im 90. Lebensjahr den Doktorgrad im Blick

Kurzfassung: Im 90. Lebensjahr den Doktorgrad im Blick"Für mich war selbstverständlich, dass ich studieren wollte." Dieser Satz kommt Rosemarie Achenbach ganz nüchtern und mit Nachdruck über die Lippen. Dabei ...
[Universität Siegen - 10.02.2014] Im 90. Lebensjahr den Doktorgrad im Blick
"Für mich war selbstverständlich, dass ich studieren wollte." Dieser Satz kommt Rosemarie Achenbach ganz nüchtern und mit Nachdruck über die Lippen. Dabei gilt ihr Statement keinem Entschluss, der im 21. Jahrhundert gefällt worden wäre. Vielmehr wandert der Blick zurück in die 1940er Jahre. Rosmarie Born - seit 1946 Achenbach - wurde 1924 in Dortmund geboren. Mit 18 Jahren hatte sie ihr Abitur in der Tasche. Ein Jahr später ging die junge Frau, deren Faible zu Schulzeiten bereits dem Zeichnen galt, nach München zum Studieren. Für Kunstgeschichte und Literatur schrieb sie sich ein, war Gasthörerin an der Akademie für Freie Kunst: "Deshalb bin ich ja nach München gegangen. Ich habe Akt und Portrait gezeichnet." 1944 entschied sie sich fürs Hauptfach Psychologie und die Nebenfächer Philosophie und Psychiatrie. Der Vater, Ingenieur in einer Dortmunder Maschinenfabrik, nahm einen Zweitjob an, um dem einzigen Kind den Hochschulbesuch zu ermöglichen. Daraus entstand eine innere Verpflichtung, die Rosemarie Achenbach bis ins hohe Alter begleitet hat.
Rosemarie Achenbach ist heute 89 Jahre alt. Zum Sommerbeginn steht das 90. Wiegenfest ins Haus. Ihr Alter sieht man der rüstigen Seniorin nicht an. Die grauen Locken umspielen ein fein geschnittenes Gesicht, aus den Augen sprechen Offenheit und Interesse an Ihrer Umgebung. Nur das Gehör funktioniert nicht mehr wie in Jugendtagen. Die Nebengeräusche in der vollbesetzten Cafeteria am Campus Adolf-Reichwein-Straße der Universität Siegen machen die Verständigung noch ein wenig schwieriger. Und dennoch ist das Gespräch mit der ältesten Studierenden der Universität Siegen faszinierend und lehrreich zugleich. Beredt lässt Rosemarie Achenbach die Vergangenheit lebendig werden. Sie erzählt vom Kriegs-Pflichtdienst in den Semesterferien, von ihrem Einsatz in Lazaretten, ihrer Angst um den Verlobten an der Ostfront, ihrer Arbeit im Rahmen der Sozialarbeit sowie als Leiterin der Volksbibliothek in Szamotuly/Samter bei Posen. "Das waren Ausnahmezeiten", sinniert sie. Ihr Studium konnte sie nicht zu Ende führen. "Es gab ein Studienverbot für alle, die noch nicht im Examen waren."
Nach dem Krieg heiratete Rosemarie Born den Siegerländer Pfarrer Friedrich Achenbach. Die Zeit als Mutter und Pfarrersfrau rückten einen Studienabschluss in weite Ferne. "Der Gedanke war aber immer da", berichtet die 89-Jährige. "Ich wollte einen Studienabschluss haben." Nicht nur für sich, sondern auch aus Dankbarkeit gegenüber dem Vater. In den 1960er Jahren schnupperte Rosemarie Achenbach zumindest auf Entfernung Hochschulluft im Bereich der Erziehungswissenschaften, lernte zumeist autodidaktisch. So richtig funktionierte es mit dem Studieren aber nicht. "Irgendwann war es so, dass mein Sohn Theologe war, eine Tochter Sonderpädagogin, die andere Elektroingenieurin - und die Mama war nix." Im Verlauf der Jahre - Rosemarie Achenbachs Mann war 2003 gestorben, Enkel besuchten Unis und machten Abschlüsse - reifte der Entschluss, nochmal an die Universität zu gehen. Sie entschied sich für ein Philosophie-Studium und wurde an der Universität Siegen vorstellig: "Ich habe mich immatrikuliert wie alle anderen auch, nur dass die Leute mein Zeugnis in Sütterlinschrift nicht lesen konnten." Zwei Semester aus Münchener Zeit wurden ihr angerechnet.
In Vorlesungen und Seminaren saß die Seniorin mit jungen Leuten zusammen: "Meine Enkel waren teils älter als meine Kommilitonen. Als die hörten, wie alt ich bin, haben die mir was von ihren Omas erzählt." Trotz des Altersunterschieds entstanden Kontakte: "Das war nett mit den jungen Leuten." Mit in der Mensa war die heutige 89-Jährige aber nur einmal: "Da gab es so große Portionen, die konnte ich nicht schaffen. Ich habe aber in meinem Leben so oft Hunger gehabt, dass ich kein Essen wegwerfen mag." So gönnt sich die älteste Studierende der Universität Siegen ab und an ausgewählte Beilagen im Ars Mundi, dem Restaurant des Studentenwerks Siegen, die sie selbst "Seniorenteller" nennt. "Das ist das Privileg des Alters", sagt sie verschmitzt.
Seit 2008 hat Rosemarie Achenbach ihren Magisterabschluss im Fach Philosophie mit der Note "gut" in der Tasche - in Regelstudienzeit. Das Thema ihrer Abschlussarbeitet lautet "Der Gottesbegriff unter der Perspektive verschiedener Religionen". Einen kleinen Wermutstropfen musste sie hinnehmen: "Bei der Zeugnisverleihung hatte keines meiner Kinder Zeit. Die anderen Absolventen hatten alle ihre Eltern dabei." Die Familie hatte Rosemarie Achenbach jedoch zuvor tatkräftig unterstützt: "Mein Enkel hat mir den Umgang mit dem Computer gezeigt, mein Sohn hat geschaut, dass die theologischen Aspekte stimmen, und meine Tochter hat nachgesehen, ob ich die neue Rechtschreibung eingehalten habe." Der Dekan ließ bei der Zeugnisübergabe jegliche Wehmut schwinden. "Respekt" habe der zu ihr gesagt: "Das hat gut getan."
Nunmehr hat die 89-Jährige den Wunsch, eine Doktorarbeit zum Thema "Philosophie des Todes" zu verfassen. "Ich lese viele, viele Bücher", berichtet die betagte Studentin, die einmal pro Woche zur Vorlesung mit dem Bus an die Uni kommt. Im Internet recherchiert sie nicht: "Ich bleibe ja thematisch im 20. Jahrhundert." Für ihre angestrebte Dissertation nimmt Rosemarie Achenbach Seminare auch außerhalb der Region wahr. In Bad Godesberg hat sie sich mit der Quantentheorie auseinander gesetzt, bald will sie ein Seminar zu Karl Barth in den Niederlanden besuchen. Die Ränder der Doktorarbeit seien weitgehend abgesteckt, versichert die Seniorin. Sie beschäftigte sich intensiv mit Bewusstseinsfragen. Zeitzeugen sollen eine gewichtige Rolle spielen. "Ich habe im Leben sehr viel mitgekriegt. In meinem Alter geht man an ein solches Thema anders heran als mit 20", ist sie sich sicher. Druck macht sich Rosemarie Achenbach nicht: "Manchmal wache ich morgens auf und habe ein paar Seiten im Kopf, die gebe ich dann erst mal in den Computer ein." Auch wenn schon einiges auf der Festplatte gespeichert ist, "zu meinem 90. ist die Arbeit noch nicht fertig". Und weiter: "Mein Studium ist interessant und macht Spaß, vorher war ich wie ein ausgetrockneter Schwamm."

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