02.11.2012 13:41 Uhr in Gesellschaft & Familie von Bundesrat

Rede von Bundesratspräsident Winfried Kretschmann zu Beginn seiner Präsidentschaft

Kurzfassung: Rede von Bundesratspräsident Winfried Kretschmann zu Beginn seiner Präsidentschaft... in der 902. Sitzung des Bundesrates am 2. November 2012Es gilt das gesprochene Wort.Sehr geehrte Damen und Herre ...
[Bundesrat - 02.11.2012] Rede von Bundesratspräsident Winfried Kretschmann zu Beginn seiner Präsidentschaft

... in der 902. Sitzung des Bundesrates am 2. November 2012
Es gilt das gesprochene Wort.
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, lieber Herr Bundesminister Pofalla,
ich danke für das mir entgegengebrachte Vertrauen. Die Präsidentschaft ist für mich eine besondere Verpflichtung, der ich mich mit vollem Engagement widmen möchte.
Ein weiterer Dank gilt meinem Vorgänger in diesem Amt, Herrn Ministerpräsident Seehofer. Er hat sich in den vergangenen zwölf Monaten als versierter Sachwalter für die gemeinsamen Interessen der Länder eingesetzt - selbst zu nächtlicher Stunde. Herr Kollege Seehofer, im Namen des ganzen Hauses danke ich Ihnen sehr herzlich für Ihre ausgezeichnete Arbeit.
Meine Damen und Herren,
unsere föderale Ordnung ist eine gute politische Ordnung. Sie hat sich als Garant unseres freiheitlich-demokratischen Gemeinwesens in den letzten 60 Jahren bewährt. Das hat sich gerade in Krisen gezeigt. So haben wir es geschafft, selbst in der Finanzkrise die Interessen der Länder und der Kommunen zur Geltung zu bringen und gleichzeitig unsere gesamtstaatliche und europäische Verantwortung zu wahren. Damit haben wir auch ein Zeichen für andere Staaten gesetzt.
Trotzdem gibt es immer wieder Kritik. Zu intransparent, zu langsam, zu kompliziert sei der Föderalismus - so lauten die Vorwürfe.
Deutschland hat ein zwiespältiges Verhältnis zum Föderalismus. So spielt die Landesidentität für viele Menschen eine große Rolle. Gleichzeitig ist ihnen der Gedanke von zu viel Eigenständigkeit eher suspekt. Wie sonst könnte es sein, dass der Ruf nach einem einheitlichen Schulbuch von rund 80 Prozent der Bevölkerung begrüßt wird!
Der Föderalismus hat heute nicht viele Freunde. Dies ist einem vordergründigen ersten Blick geschuldet, dem zentralistische Einheitlichkeit besser erscheinen lässt. Ich sehe das mit großer Sorge; denn der deutsche Föderalismus wird unterschätzt. Er ist etwas Besonderes und gerade deshalb erfolgreich. Ich bin ein überzeugter Anhänger dieser föderalen Ordnung.
Meine Damen und Herren, die Kontinuität des Bundesrates als sozusagen ewige Kammer ohne Legislaturperiode, seine starke verfassungsrechtliche Stellung bei der Gesetzgebung, seine Möglichkeiten, die Vielfalt der Interessen auszugleichen, und vor allem seine Bürgernähe zeichnen diese Staatsform aus.
Im deutschen Föderalismus setzen die Länder in der Regel nicht nur ihre eigenen Gesetze, sondern auch die des Bundes um. So können über den Bundesrat wichtige praktische Erfahrungen in das Gesetzgebungsverfahren einfließen. Aus gutem Grund sind Konsens und Kompromissfähigkeit bestimmende Elemente des Bundesratsverfahrens. Unser gemeinsames Ziel muss es sein, dass der Ausgleich der Interessen der Länder und des Bundes nicht hauptsächlich entlang der politischen Farbenlehre sortiert wird.
Ein besonders positives Beispiel war für mich, als sich die Länder im vergangenen Jahr mit dem 14-Punkte-Papier aller Regierungschefinnen und Regierungschefs einstimmig und klar zur Einleitung der Energiewende positioniert haben.
Aber Föderalismus heißt auch Bürgernähe. Nur in einem föderalen System können politische Entscheidungen nah beim Bürger getroffen werden, und die Bürgerschaft wird in die Willensbildung einbezogen.
Bürgernähe beruht vor allem auf Subsidiarität, das heißt dem Denken von unten nach oben.
Schließlich bedeutet Föderalismus, dass wir unsere regionale, politische und kulturelle Vielfalt bewahren. Erst dieser tiefere zweite Blick macht die großen Vorteile einer föderalen Ordnung deutlich.
Weil ich von den Leistungen und Möglichkeiten des Föderalismus überzeugt bin, ist es mir ein Herzensanliegen, dass wir ihn populärer machen. Transparenz und Nachvollziehbarkeit spielen dabei eine entscheidende Rolle.
Die Verfahren und Abläufe im Bundesrat sind für Außenstehende oft schwer oder gar nicht verständlich. Dies gilt zum Beispiel für unsere Abstimmungsverfahren. Diese ließen sich sicherlich transparenter und nachvollziehbarer gestalten.
Der Bundesrat muss in der Öffentlichkeit als Ort lebendiger, sachorientierter Diskussionen und politischer Entscheidungen deutlicher hervortreten. Veränderungen in diesem Sinn halte ich für sinnvoll. Gerade eine so starke und gewachsene Institution wie der Bundesrat darf Offenheit gegenüber Neuem zeigen.
Auch sollten meiner Ansicht nach die Länder mit eigenen Vorlagen im Gesetzgebungsverfahren aktiver mitwirken und mitbestimmen. So kommen derzeit nur 11 Prozent der Gesetzesinitiativen aus den Ländern. Wir dürfen die Taktzahl und die Inhalte der Vorlagen nicht Bundesregierung und Bundestag überlassen.
Meine Damen und Herren, wir stehen in Deutschland vor enormen Herausforderungen:
Die Umsetzung der Energiewende ist eine Jahrhundertaufgabe. Wir werden sie nur meistern, wenn wir uns alle der gesamtstaatlichen Verantwortung bewusst sind und zugleich die große Chance nutzen, die gerade in den unterschiedlichen regionalen Möglichkeiten liegt, eine nachhaltige Energieversorgung sicherzustellen. Dass wir Länder dazu bereit sind und Konsens möglich ist, haben die Beratungen auf der Jahreskonferenz der Regierungschefinnen und Regierungschefs Ende Oktober in Weimar eindrucksvoll bewiesen.
Auch bei der Endlagerfrage bin ich der Meinung, dass wir unabhängig von Wahlterminen zu einem nationalen Konsens kommen müssen.
Darüber hinaus werden uns die Bewältigung der Euro-Krise und die Zukunft Europas in den kommenden Monaten weiter beschäftigen.
Die Länder sind nicht nur an dieser Stelle gut beraten, ihre Rechte in der bundesstaatlichen Ordnung zu verteidigen. Dies gilt vor allem in den Zukunftsbereichen Bildung, Hochschule, Forschung und Entwicklung.
Bis zum Jahre 2020 müssen wir auch die gesamten föderalen Finanzbeziehungen auf ein neues Fundament stellen. Für diese unausweichliche und schwierige Aufgabe müssen alle - Bund und Länder - Verantwortung übernehmen.
Meine Damen und Herren, ich bin der festen Überzeugung, dass unser föderales System den Anforderungen der heutigen Zeit nach wie vor gewachsen ist. Gerade in Zeiten der Globalisierung und einer vertieften europäischen Integration bieten Föderalismus und kommunale Selbstverwaltung der Bürgerschaft die Möglichkeit, mitzureden und mitzugestalten und sich so in einem wohlgeordneten Gemeinwesen beheimatet zu fühlen.
Die föderale Ordnung ist aber nicht in Stein gemeißelt. Im Lichte der politischen, wirtschaftlichen und auch gesellschaftlichen Entwicklungen unserer Zeit - insbesondere auf europäischer Ebene - können sich Verschiebungen ergeben, die eine Weiterentwicklung des föderalen Systems erforderlich machen. Dafür muss man den Föderalismus nicht neu erfinden, aber vielleicht an manchen Stellen neu gestalten. Wenn uns dies gelingt, werden wir auch die Zustimmung der Bürgerinnen und Bürger unseres Landes gewinnen können, und wir werden sie vielleicht sogar für den Föderalismus begeistern können.
Ich freue mich auf eine gute und vertrauensvolle Zusammenarbeit mit Ihnen. - Herzlichen Dank.

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