09.07.2013 10:30 Uhr in Medien & Presse von FDP
LEUTHEUSSER-SCHNARRENBERGER-Gastbeitrag für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung
Kurzfassung: LEUTHEUSSER-SCHNARRENBERGER-Gastbeitrag für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" Berlin. Die stellvertretende FDP-Bundesvorsitzende Bundesjustizministerin SABINE LEUTHEUSSER-SCHNARRENBERGER schrieb f ...
[FDP - 09.07.2013] LEUTHEUSSER-SCHNARRENBERGER-Gastbeitrag für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung"
Berlin. Die stellvertretende FDP-Bundesvorsitzende Bundesjustizministerin SABINE LEUTHEUSSER-SCHNARRENBERGER schrieb für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" (Dienstag-Ausgabe) den folgenden Gastbeitrag:
Frontalangriff auf die Freiheit
Nur wenige Tage nach den ersten Enthüllungen durch Edward Snowden luden Bundeswirtschaftsminister Rösler und ich die Spitzen der IT-Wirtschaft zu einem Krisengipfel in das Wirtschaftsministerium ein. Neben der Tatsache, dass sich Facebook gleich dem Dialog entzog, blieben nach Ende des Gesprächs mehr Fragen offen als vorher.
Die deutsche Regierung solle, so ein Anliegen der Unternehmen, doch die US-Administration bitten, sie in ihrer Transparenzoffensive zu unterstützen. Wegen der Geheimhaltung, an die die Konzerne in Amerika gebunden seien, könne man nichts sagen. Selbst auf unsere bohrenden Nachfragen, ob Google und Microsoft denn ausschließen könnten, Gegenstand einer geheimdienstlichen Spähattacke zu werden, blieb nur ein großes Fragezeichen im Sitzungssaal des Wirtschaftsministeriums stehen.
Als wären diese Vorwürfe nicht schlimm genug, standen kurz darauf die nächsten Enthüllungen über ein britisches Programm auf der Tagesordnung. "Tempora", so hieß es zwei Wochen später, sei ein britisches Programm, das umfassend personenbezogene Daten unter anderen aus dem transatlantischen Glasfaserkabel im Norden der Bundesrepublik abgreife. Gleich nach diesen Behauptungen forderte ich von meinen britischen und amerikanischen Amtskollegen Aufklärung über diese Sachverhalte, die Rechtsgrundlagen und die Rechtspraxis. Immerhin ging Ende letzter Woche eine Antwort aus London ein, aus Washington noch nicht. Darin stand aber nur, alles geschehe nach Recht und Gesetz, mehr könne man aus Geheimhaltungsgründen nicht sagen.
Der Vorwurf steht also im Raum, die Vereinigten Staaten und Großbritannien betrieben eine gigantische Überwachung des Internets, die auch vor dem Bundeskanzleramt und nationalen sowie europäischen diplomatischen Vertretungen nicht haltmache. Deshalb habe ich von Szenarien gesprochen, die an den Kalten Krieg erinnern und unter Freunden inakzeptabel sind. Die politischen Antworten darauf verlieren sich bislang im Ungefähren. Zum Beispiel in der Aussage, dass die Terrorbekämpfung wichtig sei und die Geheimdienste ja schlecht ihre Informationen aus der "New York Times" beziehen könnten.
Diese Argumentation führt direkt in die Zeit der Terroranschläge in New York, London und Madrid. Damals entstand eine weltweite Sicherheitsgesetzgebung, die einer gemeinsamen Logik folgte: "to bring the state back in". Sicherheit müsse der Staat als die Ordnungsmacht im Zeichen der Globalisierung garantieren, und zwar auf allen Ebenen, international wie national. Eingriffe in die Privatsphäre seien dafür hinzunehmen.
Das sollte gerade auch für die digitale Kommunikation gelten. Sie galt fortan nicht mehr überwiegend als Gewinn, sondern als Gefahr - das Internet als Schauplatz terroristischer Verabredungen. In Deutschland hatte sich der Paradigmenwechsel in der Innenpolitik schon angedeutet mit der Behauptung eines Grundrechts, das gar nicht existiert: des berühmt-berüchtigten "Grundrechts auf Sicherheit". Statt zu fragen, wie Sicherheit und Freiheit angesichts des Terrors in einer vernünftigen Balance gehalten werden können, behauptete der damalige Bundesinnenminister Schily einfach: Sicherheit habe als Supergrundrecht der Verfassung immer Vorrang. Gäbe es tatsächlich ein verfassungsrechtlich begründetes Grundrecht auf Sicherheit, würden die Freiheitsgrundrechte des Grundgesetzes ins Leere laufen und auch der Kernbereich privater Lebensgestaltung schutzlos werden. Gerade dieser ist nach der jüngeren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum großen Lauschangriff besonders vor staatlichen Zugriffen geschützt. Die eigentliche, dienende Funktion der Sicherheitspolitik, die den Bürgern die größtmögliche Wahrnehmung ihrer grundrechtlichen Freiheiten garantieren sollte, wurde durch den Paradigmenwechsel umgekehrt. Ziel der Innen- und Rechtspolitik von Rot-Grün sollte Sicherheit sein - "basta", wie Altbundeskanzler Schröder ja oft zu sagen pflegte.
Die Ausübung der Freiheit stand fortan gesetzgeberisch unter dem Vorbehalt, dass sie nicht Sicherheitsinteressen im Wege stehen dürfe. Im Zuge der Durchsetzung dieses so verstandenen Primats der Sicherheit wurden immer neue Eingriffsbefugnisse erlassen. Dank des Bundesverfassungsgerichts, das diese Fehlentwicklung in zentralen Entscheidungen korrigierte, wurde das Schlimmste verhindert. Genauso wie die rot-grüne Idee, ein von Terroristen gekapertes Passagierflugzeug abschießen lassen zu können. Menschenleben sollten gegenüber Menschenleben gesetzlich legitimiert durch staatliche Organe abgewogen werden können. Diese Regelung im Luftsicherheitsgesetz war, wie zu erwarten, verfassungswidrig.
Rechtsstaatlichkeit erschöpft sich nicht darin, dass der Staat nur auf gesetzlicher Grundlage handeln darf. Ein Staat ist nicht allein schon deshalb Rechtsstaat, weil er gesetzlich handelt. Vielmehr bedürfen Gesetzgebung und Gesetzesvollzug zu ihrer Legitimierung der öffentlichen und parlamentarischen Kontrolle. Und der Gesetzgeber selbst, auch der demokratisch legitimierte, ist an die Verfassung und deren Werteordnung, zuallererst an die Unantastbarkeit der Menschenwürde, gebunden. Gesetze, deren Entstehung und deren Vollzug der demokratischen Öffentlichkeit und Kontrolle entzogen sind, passen nicht zum demokratischen Rechtsstaat. Nicht zuletzt deshalb sind die bis heute äußerst vagen und hinhaltenden Reaktionen seitens der amerikanischen und der britischen Regierung so befremdlich.
Mit den Enthüllungen eines einzelnen Whistleblowers ist die Gefahr verbunden, das Vertrauen in die unbefangene digitale Kommunikation und in die parlamentarische und gerichtliche Kontrolle und damit in unseren Rechtsstaat zu untergraben - wenn sie unbeantwortet bleiben. Die institutionellen "checks and balances" und die Sicherung verfassungsmäßig garantierter Grundrechte sind mit der Totalüberwachung nicht in Einklang zu bringen. Gewiss, Regierungen sind in unserer verwobenen Welt Handlungsrestriktionen unterworfen. Die bundesdeutsche Regierung handelt in einem europäischen Mehrebenensystem, das Konsens von nunmehr 28 Mitgliedstaaten mit unterschiedlichen rechtsstaatlichen Traditionen und Kulturen erfordert. Umso wichtiger ist es, auf die Achtung der Freiheitsrechte der Bürger zu dringen.
Die politische Realität der Vorratsdatenspeicherung, wie sie diese Bundesregierung als Erbe der schwarz-roten Bundesregierung vorgefunden hat, steht exemplarisch dafür. Ich habe die vollumfängliche Vereinbarkeit der Richtlinie zur anlasslosen Vorratsdatenspeicherung mit europäischem Recht schon immer bezweifelt. Die EU-Kommission hatte eine Evaluierung und eine mögliche neue Richtlinie angekündigt. Angesichts der Meinungsunterschiede in der deutschen Regierung konnte Berlin in Brüssel keine eigenen Vorschläge einbringen. Im Hintergrund wirkte eine SPD-Opposition munter mit, die bei jeder Gelegenheit die sicherheitspolitische Grundmelodie des früheren Innenministers Schily anstimmte.
Nachdem das deutsche Umsetzungsgesetz der EU-Richtlinie vom Bundesverfassungsgericht für nichtig erklärt wurde, lehnte die FDP ein Gesetz zur anlasslosen Speicherung von Telekommunikationsverbindungsdaten ab und fordert seitdem einen Paradigmenwechsel - hin zur Sicherung von Daten bei konkreten Anlässen. Die anlasslose Vorratsdatenspeicherung ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ein besonders schwerer Eingriff in die Grundrechte der Bürger mit einer Streubreite, wie sie die deutsche Rechtsordnung bis dahin nicht kannte.
Die anlasslose Vorratsdatenspeicherung war der Startschuss in die schöne neue Welt der immensen Datenberge und des Profilings. Jeder Einzelne unterlag fortan einem pauschalen Verdacht. Die lückenlose Überwachung aller Kommunikationsbeziehungen und die damit einhergehende Erstellung von Bewegungs- und Kommunikationsprofilen sollten von nun an unabdingbar für unsere Sicherheit sorgen. Sarkastisch gewendet: Der gute, fürsorgende Staat - endlich konnte er sein wahres Antlitz zeigen.
Es ist schon sehr erstaunlich, dass diejenigen, die sich in der deutschen Debatte über die von Edward Snowden enthüllten Spähprogramme aufregen, zugleich Befürworter der Vorratsdatenspeicherung in Deutschland sind. Nicht einmal einen Monat ist es her, dass die grün-rote Landesregierung von Baden-Württemberg auf der Justizministerkonferenz einen Antrag auf Wiedereinführung der Vorratsdatenspeicherung stellte. Dieser Antrag wurde, mit der Ausnahme von Niedersachsen, von allen rot-grünen Landesregierungen mitgetragen. Da darf man durchaus die Frage stellen, wer eigentlich die digitalen Feinde der offenen Gesellschaft sind, von denen der SPD-Vorsitzende Gabriel in dieser Zeitung schrieb (F.A.Z. vom 2. Juli).
Anders als bei der anlasslosen Vorratsdatenspeicherung sind bei "Prism" und "Tempora" die Tiefe und Breite der Überwachung unklar. Das ist nicht akzeptabel. Denn um Augustinus von Hippo zu paraphrasieren: Nimm die demokratische Legitimität weg - was ist der Staat dann noch anderes als eine große Hackerbande?
Voraussetzung für demokratische Legitimität ist gerade, dass die Öffentlichkeit beteiligt ist und dass Informationen über das Ausmaß staatlichen Handelns vorliegen. Auch Geheimdienste dürfen nicht unkontrolliert arbeiten. Erst dann kann eine genaue Abwägung zwischen dem Eingriff in die Grundrechte und dem möglichen Nutzen der Maßnahme erfolgen. Wie wir mit unseren digitalen Daten umgehen, das zählt zu den wichtigsten Fragen, die die Politik derzeit beantworten muss: international, europäisch und national.
International: Sicherheit und Transparenz des Netzes unserer Kommunikation sind eine globale Herausforderung. Sie wird auch global gelöst werden müssen. Art. 17 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte von 1966 garantiert den Schutz der Privatsphäre und der Kommunikation. Durch ein Zusatzprotokoll könnte dieser Schutz weiter konkretisiert und an das Internetzeitalter angepasst werden. Denkbar wäre auch ein internationales Schutzabkommen für den weltweiten Datenverkehr über die Internationale Fernmeldeunion der Vereinten Nationen. Darin könnten die Anforderungen und rechtsstaatlichen Standards, die eine Weitergabe von Daten oder den Zugriff staatlicher Stellen auf gespeicherte Daten regeln, international vereinheitlicht und normiert werden.
Dass ein solches globales Vorgehen weitaus schwieriger zu realisieren ist als gemeinsame europäische oder transatlantische Vereinbarungen, das liegt auf der Hand. Doch die Bundesrepublik ist seit Jahrzehnten weltweiter Vorreiter auf dem Gebiet des Datenschutzes. Daraus erwächst auch eine Verpflichtung, sich international für den Schutz unserer Daten und eine vertrauliche und sichere Kommunikation einzusetzen.
Die digitale Welt braucht Werte und Vertrauen genauso wie die analoge Welt. Die Würde des Menschen ist unantastbar und die Politik aufgefordert, diesem Leitsatz des Grundgesetzes zum Durchbruch zu verhelfen. Unbefangene Kommunikation setzt voraus, dass ich erwarten kann, dass mein Gegenüber meine Werte teilt. Ohne dieses Vertrauen gibt es keine unbefangene Kommunikation.
Europäisch: Heute findet die mündliche Verhandlung vor dem Europäischen Gerichtshof gegen die Vorratsdatenspeicherung statt. Irland und Österreich stellen die Vereinbarkeit der Vorratsdatenspeicherungsrichtlinie mit europäischem Recht in Frage. Die europäische Politik sollte das Ergebnis der Verhandlung nicht abwarten, sondern den Irrweg der anlasslosen Vorratsdatenspeicherung verlassen. Es wird Zeit für eine neue europäische Richtlinie, die nicht mehr jeden EU-Bürger unter Generalverdacht stellt.
Und national: Vor bald vier Jahren hat die jetzige Bundesregierung damit angefangen, die überbordende Sicherheitsgesetzgebung der Vorgängerregierungen zurechtzustutzen. Erstmals gibt es am Ende einer Legislaturperiode keine neuen Sicherheitsgesetze. Eine Regierungskommission wird bis zum Ende der Sommerpause Vorschläge für eine Renovierung unserer Sicherheitsarchitektur vorlegen. Das wird ein Riesenprojekt für die kommende Legislaturperiode, das jenseits des Wahlkampfs ernst genommen gehört.
"Prism" und "Tempora" sind nicht vom Himmel gefallen. Sie sind der vorläufige Höhepunkt (oder eher Tiefpunkt) einer Entwicklung, die seit dem 11. September 2001 ihren Lauf genommen hat. Es liegt an uns Bürgern, diese Entwicklung zu ändern.
Abteilung Presse und Öffentlichkeitsarbeit
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Berlin. Die stellvertretende FDP-Bundesvorsitzende Bundesjustizministerin SABINE LEUTHEUSSER-SCHNARRENBERGER schrieb für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" (Dienstag-Ausgabe) den folgenden Gastbeitrag:
Frontalangriff auf die Freiheit
Nur wenige Tage nach den ersten Enthüllungen durch Edward Snowden luden Bundeswirtschaftsminister Rösler und ich die Spitzen der IT-Wirtschaft zu einem Krisengipfel in das Wirtschaftsministerium ein. Neben der Tatsache, dass sich Facebook gleich dem Dialog entzog, blieben nach Ende des Gesprächs mehr Fragen offen als vorher.
Die deutsche Regierung solle, so ein Anliegen der Unternehmen, doch die US-Administration bitten, sie in ihrer Transparenzoffensive zu unterstützen. Wegen der Geheimhaltung, an die die Konzerne in Amerika gebunden seien, könne man nichts sagen. Selbst auf unsere bohrenden Nachfragen, ob Google und Microsoft denn ausschließen könnten, Gegenstand einer geheimdienstlichen Spähattacke zu werden, blieb nur ein großes Fragezeichen im Sitzungssaal des Wirtschaftsministeriums stehen.
Als wären diese Vorwürfe nicht schlimm genug, standen kurz darauf die nächsten Enthüllungen über ein britisches Programm auf der Tagesordnung. "Tempora", so hieß es zwei Wochen später, sei ein britisches Programm, das umfassend personenbezogene Daten unter anderen aus dem transatlantischen Glasfaserkabel im Norden der Bundesrepublik abgreife. Gleich nach diesen Behauptungen forderte ich von meinen britischen und amerikanischen Amtskollegen Aufklärung über diese Sachverhalte, die Rechtsgrundlagen und die Rechtspraxis. Immerhin ging Ende letzter Woche eine Antwort aus London ein, aus Washington noch nicht. Darin stand aber nur, alles geschehe nach Recht und Gesetz, mehr könne man aus Geheimhaltungsgründen nicht sagen.
Der Vorwurf steht also im Raum, die Vereinigten Staaten und Großbritannien betrieben eine gigantische Überwachung des Internets, die auch vor dem Bundeskanzleramt und nationalen sowie europäischen diplomatischen Vertretungen nicht haltmache. Deshalb habe ich von Szenarien gesprochen, die an den Kalten Krieg erinnern und unter Freunden inakzeptabel sind. Die politischen Antworten darauf verlieren sich bislang im Ungefähren. Zum Beispiel in der Aussage, dass die Terrorbekämpfung wichtig sei und die Geheimdienste ja schlecht ihre Informationen aus der "New York Times" beziehen könnten.
Diese Argumentation führt direkt in die Zeit der Terroranschläge in New York, London und Madrid. Damals entstand eine weltweite Sicherheitsgesetzgebung, die einer gemeinsamen Logik folgte: "to bring the state back in". Sicherheit müsse der Staat als die Ordnungsmacht im Zeichen der Globalisierung garantieren, und zwar auf allen Ebenen, international wie national. Eingriffe in die Privatsphäre seien dafür hinzunehmen.
Das sollte gerade auch für die digitale Kommunikation gelten. Sie galt fortan nicht mehr überwiegend als Gewinn, sondern als Gefahr - das Internet als Schauplatz terroristischer Verabredungen. In Deutschland hatte sich der Paradigmenwechsel in der Innenpolitik schon angedeutet mit der Behauptung eines Grundrechts, das gar nicht existiert: des berühmt-berüchtigten "Grundrechts auf Sicherheit". Statt zu fragen, wie Sicherheit und Freiheit angesichts des Terrors in einer vernünftigen Balance gehalten werden können, behauptete der damalige Bundesinnenminister Schily einfach: Sicherheit habe als Supergrundrecht der Verfassung immer Vorrang. Gäbe es tatsächlich ein verfassungsrechtlich begründetes Grundrecht auf Sicherheit, würden die Freiheitsgrundrechte des Grundgesetzes ins Leere laufen und auch der Kernbereich privater Lebensgestaltung schutzlos werden. Gerade dieser ist nach der jüngeren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum großen Lauschangriff besonders vor staatlichen Zugriffen geschützt. Die eigentliche, dienende Funktion der Sicherheitspolitik, die den Bürgern die größtmögliche Wahrnehmung ihrer grundrechtlichen Freiheiten garantieren sollte, wurde durch den Paradigmenwechsel umgekehrt. Ziel der Innen- und Rechtspolitik von Rot-Grün sollte Sicherheit sein - "basta", wie Altbundeskanzler Schröder ja oft zu sagen pflegte.
Die Ausübung der Freiheit stand fortan gesetzgeberisch unter dem Vorbehalt, dass sie nicht Sicherheitsinteressen im Wege stehen dürfe. Im Zuge der Durchsetzung dieses so verstandenen Primats der Sicherheit wurden immer neue Eingriffsbefugnisse erlassen. Dank des Bundesverfassungsgerichts, das diese Fehlentwicklung in zentralen Entscheidungen korrigierte, wurde das Schlimmste verhindert. Genauso wie die rot-grüne Idee, ein von Terroristen gekapertes Passagierflugzeug abschießen lassen zu können. Menschenleben sollten gegenüber Menschenleben gesetzlich legitimiert durch staatliche Organe abgewogen werden können. Diese Regelung im Luftsicherheitsgesetz war, wie zu erwarten, verfassungswidrig.
Rechtsstaatlichkeit erschöpft sich nicht darin, dass der Staat nur auf gesetzlicher Grundlage handeln darf. Ein Staat ist nicht allein schon deshalb Rechtsstaat, weil er gesetzlich handelt. Vielmehr bedürfen Gesetzgebung und Gesetzesvollzug zu ihrer Legitimierung der öffentlichen und parlamentarischen Kontrolle. Und der Gesetzgeber selbst, auch der demokratisch legitimierte, ist an die Verfassung und deren Werteordnung, zuallererst an die Unantastbarkeit der Menschenwürde, gebunden. Gesetze, deren Entstehung und deren Vollzug der demokratischen Öffentlichkeit und Kontrolle entzogen sind, passen nicht zum demokratischen Rechtsstaat. Nicht zuletzt deshalb sind die bis heute äußerst vagen und hinhaltenden Reaktionen seitens der amerikanischen und der britischen Regierung so befremdlich.
Mit den Enthüllungen eines einzelnen Whistleblowers ist die Gefahr verbunden, das Vertrauen in die unbefangene digitale Kommunikation und in die parlamentarische und gerichtliche Kontrolle und damit in unseren Rechtsstaat zu untergraben - wenn sie unbeantwortet bleiben. Die institutionellen "checks and balances" und die Sicherung verfassungsmäßig garantierter Grundrechte sind mit der Totalüberwachung nicht in Einklang zu bringen. Gewiss, Regierungen sind in unserer verwobenen Welt Handlungsrestriktionen unterworfen. Die bundesdeutsche Regierung handelt in einem europäischen Mehrebenensystem, das Konsens von nunmehr 28 Mitgliedstaaten mit unterschiedlichen rechtsstaatlichen Traditionen und Kulturen erfordert. Umso wichtiger ist es, auf die Achtung der Freiheitsrechte der Bürger zu dringen.
Die politische Realität der Vorratsdatenspeicherung, wie sie diese Bundesregierung als Erbe der schwarz-roten Bundesregierung vorgefunden hat, steht exemplarisch dafür. Ich habe die vollumfängliche Vereinbarkeit der Richtlinie zur anlasslosen Vorratsdatenspeicherung mit europäischem Recht schon immer bezweifelt. Die EU-Kommission hatte eine Evaluierung und eine mögliche neue Richtlinie angekündigt. Angesichts der Meinungsunterschiede in der deutschen Regierung konnte Berlin in Brüssel keine eigenen Vorschläge einbringen. Im Hintergrund wirkte eine SPD-Opposition munter mit, die bei jeder Gelegenheit die sicherheitspolitische Grundmelodie des früheren Innenministers Schily anstimmte.
Nachdem das deutsche Umsetzungsgesetz der EU-Richtlinie vom Bundesverfassungsgericht für nichtig erklärt wurde, lehnte die FDP ein Gesetz zur anlasslosen Speicherung von Telekommunikationsverbindungsdaten ab und fordert seitdem einen Paradigmenwechsel - hin zur Sicherung von Daten bei konkreten Anlässen. Die anlasslose Vorratsdatenspeicherung ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ein besonders schwerer Eingriff in die Grundrechte der Bürger mit einer Streubreite, wie sie die deutsche Rechtsordnung bis dahin nicht kannte.
Die anlasslose Vorratsdatenspeicherung war der Startschuss in die schöne neue Welt der immensen Datenberge und des Profilings. Jeder Einzelne unterlag fortan einem pauschalen Verdacht. Die lückenlose Überwachung aller Kommunikationsbeziehungen und die damit einhergehende Erstellung von Bewegungs- und Kommunikationsprofilen sollten von nun an unabdingbar für unsere Sicherheit sorgen. Sarkastisch gewendet: Der gute, fürsorgende Staat - endlich konnte er sein wahres Antlitz zeigen.
Es ist schon sehr erstaunlich, dass diejenigen, die sich in der deutschen Debatte über die von Edward Snowden enthüllten Spähprogramme aufregen, zugleich Befürworter der Vorratsdatenspeicherung in Deutschland sind. Nicht einmal einen Monat ist es her, dass die grün-rote Landesregierung von Baden-Württemberg auf der Justizministerkonferenz einen Antrag auf Wiedereinführung der Vorratsdatenspeicherung stellte. Dieser Antrag wurde, mit der Ausnahme von Niedersachsen, von allen rot-grünen Landesregierungen mitgetragen. Da darf man durchaus die Frage stellen, wer eigentlich die digitalen Feinde der offenen Gesellschaft sind, von denen der SPD-Vorsitzende Gabriel in dieser Zeitung schrieb (F.A.Z. vom 2. Juli).
Anders als bei der anlasslosen Vorratsdatenspeicherung sind bei "Prism" und "Tempora" die Tiefe und Breite der Überwachung unklar. Das ist nicht akzeptabel. Denn um Augustinus von Hippo zu paraphrasieren: Nimm die demokratische Legitimität weg - was ist der Staat dann noch anderes als eine große Hackerbande?
Voraussetzung für demokratische Legitimität ist gerade, dass die Öffentlichkeit beteiligt ist und dass Informationen über das Ausmaß staatlichen Handelns vorliegen. Auch Geheimdienste dürfen nicht unkontrolliert arbeiten. Erst dann kann eine genaue Abwägung zwischen dem Eingriff in die Grundrechte und dem möglichen Nutzen der Maßnahme erfolgen. Wie wir mit unseren digitalen Daten umgehen, das zählt zu den wichtigsten Fragen, die die Politik derzeit beantworten muss: international, europäisch und national.
International: Sicherheit und Transparenz des Netzes unserer Kommunikation sind eine globale Herausforderung. Sie wird auch global gelöst werden müssen. Art. 17 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte von 1966 garantiert den Schutz der Privatsphäre und der Kommunikation. Durch ein Zusatzprotokoll könnte dieser Schutz weiter konkretisiert und an das Internetzeitalter angepasst werden. Denkbar wäre auch ein internationales Schutzabkommen für den weltweiten Datenverkehr über die Internationale Fernmeldeunion der Vereinten Nationen. Darin könnten die Anforderungen und rechtsstaatlichen Standards, die eine Weitergabe von Daten oder den Zugriff staatlicher Stellen auf gespeicherte Daten regeln, international vereinheitlicht und normiert werden.
Dass ein solches globales Vorgehen weitaus schwieriger zu realisieren ist als gemeinsame europäische oder transatlantische Vereinbarungen, das liegt auf der Hand. Doch die Bundesrepublik ist seit Jahrzehnten weltweiter Vorreiter auf dem Gebiet des Datenschutzes. Daraus erwächst auch eine Verpflichtung, sich international für den Schutz unserer Daten und eine vertrauliche und sichere Kommunikation einzusetzen.
Die digitale Welt braucht Werte und Vertrauen genauso wie die analoge Welt. Die Würde des Menschen ist unantastbar und die Politik aufgefordert, diesem Leitsatz des Grundgesetzes zum Durchbruch zu verhelfen. Unbefangene Kommunikation setzt voraus, dass ich erwarten kann, dass mein Gegenüber meine Werte teilt. Ohne dieses Vertrauen gibt es keine unbefangene Kommunikation.
Europäisch: Heute findet die mündliche Verhandlung vor dem Europäischen Gerichtshof gegen die Vorratsdatenspeicherung statt. Irland und Österreich stellen die Vereinbarkeit der Vorratsdatenspeicherungsrichtlinie mit europäischem Recht in Frage. Die europäische Politik sollte das Ergebnis der Verhandlung nicht abwarten, sondern den Irrweg der anlasslosen Vorratsdatenspeicherung verlassen. Es wird Zeit für eine neue europäische Richtlinie, die nicht mehr jeden EU-Bürger unter Generalverdacht stellt.
Und national: Vor bald vier Jahren hat die jetzige Bundesregierung damit angefangen, die überbordende Sicherheitsgesetzgebung der Vorgängerregierungen zurechtzustutzen. Erstmals gibt es am Ende einer Legislaturperiode keine neuen Sicherheitsgesetze. Eine Regierungskommission wird bis zum Ende der Sommerpause Vorschläge für eine Renovierung unserer Sicherheitsarchitektur vorlegen. Das wird ein Riesenprojekt für die kommende Legislaturperiode, das jenseits des Wahlkampfs ernst genommen gehört.
"Prism" und "Tempora" sind nicht vom Himmel gefallen. Sie sind der vorläufige Höhepunkt (oder eher Tiefpunkt) einer Entwicklung, die seit dem 11. September 2001 ihren Lauf genommen hat. Es liegt an uns Bürgern, diese Entwicklung zu ändern.
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